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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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jemanden kennt, ist es zwecklos, irgendeinen dieser Menschen um Arbeit zu bitten. Für die ganz unten ist daher das Plündern der gängigste Ausweg. Es ist der Job für Leute ohne Job, und nach meiner Schätzung sind zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung in diesem Geschäft tätig. Ich selbst habe es auch eine Zeitlang betrieben, und die Sache ist ganz einfach: Hat man einmal damit angefangen, ist es praktisch unmöglich, wieder aufzuhören. Es nimmt einen dermaßen in Anspruch, dass keine Zeit bleibt, an irgendetwas anderes zu denken.
    Es gibt zwei Kategorien von Plünderern: Müllsammler und Materialjäger. Die erste Kategorie ist sehr viel zahlreicher vertreten als die zweite, aber wenn man hart arbeitet und zwölf bis vierzehn Stunden täglich darauf verwendet, hat man in beiden gute Chancen, genug zum Leben zu verdienen. Eine städtische Müllabfuhr gibt es seit vielen Jahren nicht mehr. Stattdessen haben eine Reihe privater Müllhändler – in jeder Zensuszone einer –, die der Stadtregierung das Recht zum Müllsammeln in ihren Bezirken abgekauft haben, die Stadt unter sich aufgeteilt. Um als Müllsammler arbeiten zu können, muss man zunächst von einem der Händler eine Genehmigung erhalten – für die eine monatliche Gebühr zu entrichten ist, die bis zu fünfzig Prozent deiner Einnahmen betragen kann. Ohne Genehmigung zu arbeiten ist verführerisch, aber auch außerordentlich riskant, denn jeder Händler hat einen Trupp Inspektoren, die durch die Straßen patrouillieren und bei jedem, den sie beim Müllsammeln antreffen, Stichproben durchführen. Wenn man die entsprechenden Papiere nicht vorzeigen kann, haben die Inspektoren das gesetzlich verankerte Recht, eine Geldbuße zu verhängen, und wer die nicht bezahlen kann, wird festgenommen und in eines der Arbeitslager westlich der Stadt deportiert – um dort die nächsten sieben Jahre als Gefangener zuzubringen. Manche behaupten, das Leben in diesen Lagern sei besser als das in der Stadt, doch das ist reine Spekulation. Einige sind sogar so weit gegangen, dass sie sich absichtlich haben verhaften lassen, aber man hat noch nie einen von ihnen wiedergesehen.
    Angenommen, man ist ordnungsgemäß eingetragener Müllsammler und sämtliche Papiere sind in Ordnung, dann verdient man sein Geld damit, dass man so viel wie möglich einsammelt und zum nächstgelegenen Kraftwerk bringt. Dort erhält man pro Pfund einen gewissen Geldbetrag – einen geringfügigen Betrag –, und dann wird der Müll in einen der Verarbeitungskessel gekippt. Bevorzugtes Transportmittel für den Müll ist der Einkaufswagen – so ähnlich wie die bei uns zu Hause. Diese Metallkörbe auf Rädern haben sich als stabile Vehikel erwiesen, und sie erfüllen ihren Zweck fraglos besser als alles andere. Größere Gefährte zu schieben wäre bei voller Kapazitätsausnutzung viel zu anstrengend, und kleinere würden zu viele Gänge zur Sammelstelle erfordern. (Vor ein paar Jahren erschien sogar eine Broschüre zu diesem Thema, in der die Korrektheit dieser Annahme bewiesen wurde.) Infolgedessen sind diese Wagen sehr begehrt, und das erste Ziel jedes neugebackenen Müllsammlers besteht darin, sich einen zu beschaffen. Das kann Monate, manchmal auch Jahre dauern – aber ohne so einen Wagen hat man unmöglich in dem Geschäft Erfolg. Hinter alldem verbirgt sich eine tödliche Gleichung. Da die Arbeit so wenig einbringt, hat man kaum eine Chance, etwas beiseite zu legen – und tut man es doch, bedeutet das im Allgemeinen, dass man sich irgendetwas Unentbehrliches vorenthält: Nahrung zum Beispiel, ohne die man nicht die Kraft haben wird, die Arbeit zu leisten, die nötig ist, um das für den Erwerb des Wagens erforderliche Geld zusammenzubringen. Du erkennst das Problem. Je härter man arbeitet, desto schwächer wird man; je schwächer man ist, desto kräftezehrender die Arbeit. Aber das ist erst der Anfang. Denn gelingt es einem tatsächlich, einen Wagen zu erwerben, muss man ständig auf der Hut sein, ihn in gutem Zustand zu erhalten. Die Straßen sind mörderisch für solche Gerätschaften, und besonders den Rädern ist fortwährend Aufmerksamkeit zu schenken. Doch gelingt es einem, mit alldem fertig zu werden, kommt auch noch der Zwang dazu, dass man seinen Wagen nie aus den Augen lassen darf. Seit die Wagen so wertvoll geworden sind, sind sie ein beliebtes Diebstahlsobjekt – und eine schlimmere Katastrophe als die, seinen Wagen zu verlieren, ist nicht vorstellbar. Die meisten Plünderer

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