Im Land der letzten Dinge (German Edition)
benutzen daher eine Art Sicherung, die man als «Nabelschnur» bezeichnet – also ein Seil, eine Hundeleine oder eine Kette, die man sich buchstäblich um die Taille bindet und dann an dem Wagen befestigt. Das Gehen wird dadurch zwar beschwerlich, aber die Mühe lohnt sich. Wegen des Lärms, den diese Ketten machen, wenn der Karren die Straßen entlangpoltert, nennt man die Plünderer häufig auch «Musiker».
Ein Materialjäger hat sich denselben Anmeldeverfahren zu unterziehen wie ein Müllsammler und ist denselben willkürlichen Überprüfungen unterworfen, aber seine Arbeit ist von anderer Art. Der Müllsammler sucht nach Abfällen; der Materialjäger sucht nach Verwertbarem. Er fahndet nach bestimmten Gütern und Materialien, die sich noch verwenden lassen, und obwohl es ihm freisteht, mit den gefundenen Gegenständen zu tun, was ihm beliebt, verkauft er sie im Allgemeinen an einen der Auferstehungsagenten in der Stadt; diese privaten Unternehmer verarbeiten den ganzen Krimskrams dann zu neuen Waren, die schließlich auf dem freien Markt verkauft werden. Sie üben mehrere Funktionen auf einmal aus – Schrotthändler, Fabrikant, Ladenbesitzer –, und da andere Produktionsverfahren in der Stadt so gut wie ausgestorben sind, zählen sie zu den reichsten und mächtigsten Leuten überhaupt, und ihre einzige Konkurrenz sind die Müllhändler selbst. Ein guter Materialjäger kann daher mit seiner Arbeit einen annehmbaren Lebensunterhalt erzielen. Aber schnell muss man sein, clever muss man sein, und man muss wissen, wo man zu suchen hat. Junge Leute kommen am besten damit zurecht, und man sieht selten einen Materialjäger, der älter als zwanzig oder fünfundzwanzig ist. Wer der Sache nicht gewachsen ist, muss sich bald nach einer anderen Arbeit umsehen, denn es gibt keine Garantie dafür, dass all die Bemühungen irgendetwas einbringen. Die Müllsammler sind älter und konservativer und fügen sich in die Plackerei ihres Jobs, weil sie wissen, dass sie damit über die Runden kommen – jedenfalls dann, wenn sie so hart arbeiten, wie sie können. Aber sicher ist gar nichts, da der Wettbewerb auf allen Ebenen des Plünderns ganz furchtbar geworden ist. Je knapper die Dinge in der Stadt werden, desto widerstrebender werfen die Leute überhaupt noch etwas weg. Während man Apfelsinenschalen früher gedankenlos auf die Straße geworfen hat, werden sie jetzt von vielen Leuten zu Brei verarbeitet und gegessen. Ein ausgefranstes T-Shirt, eine zerfetzte Unterhose, eine Hutkrempe – dergleichen wird jetzt aufbewahrt, damit man es zu neuen Kleidungsstücken zusammenflicken kann. Man sieht hier Leute in den scheckigsten und bizarrsten Kostümen, und jedes Mal wenn so ein Flickenmensch einem begegnet, kann man davon ausgehen, dass er einen Materialjäger um sein Brot gebracht hat.
Gleichwohl habe ich mich darauf verlegt – auf die Materialjagd. Ich hatte das große Glück, dass ich damit angefangen hatte, ehe mir das Geld ausging. Nachdem ich die Lizenz (siebzehn Glots), den Wagen (sechsundsechzig Glots), eine Leine und ein neues Paar Schuhe (fünf Glots und einundsiebzig Glots) erworben hatte, blieben mir immer noch mehr als zweihundert Glots. Das war günstig, weil es mir einen gewissen Fehlerspielraum ließ und weil ich zu diesem Zeitpunkt auf jede nur mögliche Hilfe angewiesen war. Früher oder später würde ich ganz allein im eiskalten Wasser schwimmen müssen – aber fürs Erste hatte ich etwas, woran ich mich festhalten konnte: ein Stück Holz, ein Stück Treibgut, das mein Gewicht trug.
Anfangs lief es gar nicht gut. Die Stadt war mir damals unvertraut, und ich schien mich dauernd zu verlaufen. Ich vergeudete Zeit auf Beutezügen, die nichts einbrachten, ängstigte mich in öden Straßen und war ständig zur falschen Zeit am falschen Ort. Wenn ich einmal etwas aufstöberte, dann nur, weil ich per Zufall darauf gestoßen war. Der Zufall war meine Arbeitsmethode, das beiläufige Erblicken, Bücken und Aufheben eines Gegenstands. Ich verfügte über kein System, wie es die anderen zu haben schienen, keine Möglichkeit, mein Ziel im Voraus zu bestimmen, kein Gespür dafür, was wo und wann zu finden sein würde. Man muss jahrelang in der Stadt leben, um es so weit zu bringen, und ich war nur eine Anfängerin, eine unwissende Fremde, die kaum den Weg von einer Zensuszone in die nächste finden konnte.
Dennoch war ich keine komplette Versagerin. Immerhin besaß ich meine Beine und einen gewissen jugendlichen Elan, so
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