Im Land der letzten Dinge (German Edition)
dass ich auch dann nicht aufgab, als die Aussichten alles andere als ermutigend waren. In atemlosem Hin und Her hetzte ich herum, umschlich die gefährlichen Seitengassen und Zollbarrikaden, stürmte rastlos von Straße zu Straße, ohne je die Hoffnung auf irgendeinen spektakulären Fund hinter der nächsten Ecke aufzugeben. Es ist schon seltsam, finde ich, unablässig auf den Boden zu sehen und nach kaputten oder weggeworfenen Sachen Ausschau zu halten. Nach einer Weile muss einem das doch aufs Gehirn schlagen. Denn nichts ist eigentlich mehr es selbst. Es gibt Stücke hiervon und Stücke davon, aber nichts passt zusammen. Und doch beginnt all das, seltsam genug, am äußersten Rand dieses Chaos wieder miteinander zu verschmelzen. Ein pulverisierter Apfel und eine pulverisierte Orange sind doch am Ende dasselbe, oder? Wo liegt der Unterschied zwischen einem guten Kleid und einem schlechten Kleid, wenn beide in Fetzen gerissen sind? Ab einem gewissen Stadium der Auflösung sind die Dinge nur noch Dreck, Plunder, Kehricht, sie werden zu etwas Neuem, zu Materiepartikeln oder -mengen, die nicht zu identifizieren sind. Eine Masse, ein Stäubchen, ein Fragment der Welt, das sich nicht einordnen lässt: eine Chiffre für das Es. Als Materialjäger muss man die Dinge bergen, bevor sie dieses Stadium des absoluten Verfalls erreicht haben. Man darf nie davon ausgehen, irgendetwas heil zu finden – denn das wäre ein Zufall, ein Fehler desjenigen, der es verloren hat –, aber man darf auch nicht seine Zeit dazu verwenden, nach völlig Verschlissenem zu suchen. Man hängt irgendwo dazwischen, fahndet nach Dingen, die noch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer ursprünglichen Gestalt besitzen – auch wenn sie ihren eigentlichen Gebrauchswert verloren haben. Was jemand anders ausrangiert hat, musst du untersuchen, zerlegen und wieder zum Leben erwecken. Ein Stück Schnur, ein Flaschenverschluss, ein unbeschädigtes Brett von einer zertrümmerten Kiste – dergleichen ist nicht zu verachten. Alles fällt auseinander, aber das gilt nicht für die Einzelteile der Dinge, zumindest nicht gleichzeitig. Die Aufgabe besteht darin, sich auf diese kleinen Inseln der Unversehrtheit einzuschießen, sie mit anderen solchen Inseln in Verbindung zu setzen und diese wiederum mit anderen und so neue Archipele von Substanzen zu erschaffen. Das Rettbare retten und den Rest ignorieren: Alles kommt darauf an, dies so schnell wie möglich zu lernen.
Nach und nach machte ich halbwegs ausreichende Beute. Krimskrams, natürlich, aber auch ein paar völlig unerwartete Funde: ein zusammenlegbares Fernrohr mit einer gesprungenen Linse; eine Frankensteinmaske aus Gummi; das Rad eines Fahrrads; eine kyrillische Schreibmaschine, der nur fünf Tasten und die Leertaste fehlten; den Pass eines Mannes namens Quinn. Diese Schätze machten manchen schlechten Tag wett, und mit der Zeit brachte ich es bei den Auferstehungsagenten so weit, dass ich meine Notgroschen nicht mehr anzurühren brauchte. Ich hätte es wohl noch weiter bringen können, aber ich hatte mir selbst gewisse Grenzen gesetzt, die ich auf keinen Fall überschreiten wollte. Zum Beispiel, die Toten anzufassen. Leichen auszurauben ist eine der einträglichsten Seiten des Plünderns, und nur wenige Materialjäger lassen sich diese Chance entgehen. Ständig redete ich mir ein, ich sei ein Narr, ein zimperliches kleines reiches Mädchen, das keinen Lebenswillen habe, aber das half alles nichts. Ich gab mir Mühe. Ein paarmal war ich schon kurz davor – aber wenn es dann zur Sache gehen sollte, verließ mich der Mut. Ich erinnere mich an einen alten Mann und ein halbwüchsiges Mädchen: wie ich mich neben sie kauerte, meine Hände nach ihren Leichen ausstreckte, mir einzureden versuchte, dass es ihnen doch nichts ausmache. Und dann eines Tages, frühmorgens auf der Lampshade Road ein kleiner Junge von etwa sechs Jahren. Ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden. Nicht dass ich Stolz empfand, eine zutiefst moralische Entscheidung getroffen zu haben – ich brachte es einfach nicht über mich, so weit zu gehen.
Was mich fernerhin schmerzte war, dass ich allein blieb. Ich verkehrte nicht mit anderen Plünderern, unternahm nichts, um mich mit jemandem anzufreunden. Man braucht aber Verbündete, besonders um sich vor den Geiern zu schützen – das sind Plünderer, die vom Bestehlen anderer Plünderer leben. Die Inspektoren ignorieren dieses Unwesen und widmen ihre Aufmerksamkeit ausschließlich
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