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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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denjenigen, die ohne Konzession plündern. Die lizenzierten Plünderer sind daher praktisch vogelfrei, müssen sich auf Angriffe und Gegenangriffe einstellen und jederzeit auf alles Mögliche gefasst sein. Mir wurde durchschnittlich einmal pro Woche die Beute geklaut, und schließlich begann ich diese Verluste im Voraus einzukalkulieren, als wären sie ein normaler Teil meiner Arbeit. Mit Freunden hätte ich einigen dieser Überfälle entgehen können. Aber auf lange Sicht schien es mir das nicht wert. Die Plünderer waren ein abstoßender Haufen – Geier und Nicht-Geier gleichermaßen –, und wenn ich ihren Plänen, Prahlereien und Lügenmärchen zuhörte, drehte sich mir der Magen um. Entscheidend ist, dass ich nie meinen Wagen verloren habe. So verlief meine erste Zeit in der Stadt; ich war noch kräftig genug, die Suche fortzuführen, und noch schnell genug, um, wenn nötig, vor einer Gefahr auszureißen.

Hab Geduld mit mir. Ich weiß, dass ich manchmal abschweife, aber wenn ich die Dinge nicht so niederschreibe, wie sie mir einfallen, glaube ich sie für immer zu verlieren. Mit meinem Verstand ist manches anders geworden. Er ist jetzt langsamer, träge und nicht mehr so beweglich, und schon das Weiterverfolgen des einfachsten Gedankens erschöpft mich. So fängt es also an, trotz meiner Bemühungen. Die Worte fallen mir nur noch ein, wenn ich sie schon gar nicht mehr zu finden glaube, wenn ich schon bezweifle, sie je wieder hervorbringen zu können. Jeden Tag derselbe Kampf, dieselbe Leere, dieselbe Sehnsucht, zu vergessen und doch nicht zu vergessen. Immer nur an diesem Punkt, immer nur an dieser Grenze beginnt der Stift zu schreiben. Die Geschichte fängt an und hört auf, geht weiter und verliert sich, und welch ein Schweigen zwischen jedem einzelnen Wort, Worte, die entfliehen und verschwinden und nie wieder auftauchen.
    Lange Zeit versuchte ich mich an gar nichts zu erinnern. Indem ich meine Gedanken auf die Gegenwart beschränkte, kam ich leichter zurecht und war weniger anfällig für Verstimmungen. Das Gedächtnis ist eine große Falle, verstehst du, und ich tat mein Bestes, um mich zurückzuhalten und dafür zu sorgen, dass meine Gedanken sich nicht in die alten Zeiten zurückschlichen. Aber seit kurzem lasse ich nach, jeden Tag ein bisschen mehr, wie es scheint, und manchmal komme ich nicht mehr davon los: von meinen Eltern, von William, von dir. Ich war ja so ein wildes junges Ding, oder? Ich bin schneller erwachsen geworden, als mir guttat, niemand konnte mir irgendetwas beibringen, das ich nicht schon gewusst hätte. Und jetzt denke ich nur noch daran, wie ich meinen Eltern weh getan habe, wie meine Mutter geweint hat, als ich ihr sagte, ich ginge fort. Es reichte noch nicht, dass sie William verloren hatten, jetzt sollten sie auch mich noch verlieren. Bitte – wenn du meine Eltern siehst, sag ihnen, es tut mir leid. Ich brauche die Gewissheit, dass jemand das für mich tut, und nur auf dich kann ich mich verlassen.
    Ja, es gibt vieles, wofür ich mich schäme. Zuweilen kommt mir mein Leben wie eine einzige Kette von Kümmernissen, von falschen Entscheidungen und unwiderruflichen Fehlern vor. Darin besteht das Problem, wenn man anfängt zurückzublicken. Man sieht sein früheres Ich und ist entsetzt. Doch jetzt ist es zu spät für Rechtfertigungen, das ist mir klar. Es ist für alles zu spät, nur nicht zum Weitermachen. So lauten also die Worte. Früher oder später werde ich versuchen, alles zu sagen, und es spielt keine Rolle, in welcher Reihenfolge, ob nun das Erste als Zweites kommt oder das Zweite als Letztes. All das wirbelt gleichzeitig in meinem Kopf herum, und wenn man etwas lange genug behalten kann, um es auszusprechen, ist das schon ein Sieg. Wenn dich das verwirrt, tut es mir leid. Aber ich habe kaum eine Wahl. Ich muss alles genau so nehmen, wie es kommt.

Ich habe William nicht gefunden, fuhr sie fort. Das versteht sich wohl von selbst. Ich habe ihn nicht gefunden und auch nie jemanden getroffen, der mir sagen konnte, wo er wäre. Die Vernunft sagt mir, dass er tot ist, aber sicher kann ich mir nicht sein. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, nicht einmal für die wüstesten Spekulationen, und solange ich keine Beweise habe, ziehe ich es vor, mit allem zu rechnen. Ohne Wissen ist weder Hoffnung noch Verzweiflung möglich. Dann sollte man lieber an allem zweifeln, und Zweifeln ist unter den gegebenen Umständen die reinste Wohltat.
    Wenn William nicht in der Stadt sein sollte, kann

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