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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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auf der Straße und versperren jeglichen Durchgang. Diese Sperren werden von Männern gebaut, wann immer Material dazu vorhanden ist, und dann stehen sie da oben, mit Keulen, Gewehren oder Steinen bewaffnet, und lauern Passanten auf. Sie haben die Straße in ihrer Gewalt. Wenn man vorbeiwill, muss man den Wächtern geben, was sie verlangen. Manchmal ist es Geld; manchmal ist es Essen; manchmal ist es Sex. Prügel sind an der Tagesordnung, und hin und wieder hört man von einem Mord.
    Neue Zollstellen werden gebaut, alte verschwinden. Nie weißt du, welche Straßen du benutzen kannst und welche zu meiden sind. Nach und nach nimmt dir die Stadt jegliche Sicherheit. Du kannst dich nie auf einen Weg festlegen, und überleben kannst du nur, wenn du nichts nötig hast. Du musst auf der Stelle haltmachen, dein Vorhaben fallenlassen und umkehren können. Schließlich gibt es nichts, was es nicht gibt. Und darum musst du lernen, die Zeichen zu deuten. Versagen die Augen, hilft manchmal die Nase weiter. Mein Geruchssinn ist unnatürlich scharf geworden. Trotz der Begleiterscheinungen – dem plötzlichen Ekel, der Benommenheit, der Angst, die mit dem Gestank in meinen Körper einzieht – schützt er mich in besonders gefährlichen Situationen, zum Beispiel wenn ich um eine Ecke biege. Denn die Zollstellen haben einen eigentümlichen Geruch, den man selbst aus großer Entfernung erkennen lernt. Aus Steinen, Zement und Holz zusammengesetzt, enthalten die Barrikaden auch Müll und Gipsabfälle, und durch die Einwirkung der Sonne auf diesen Müll entsteht ein Gestank, der intensiver ist als anderswo, und der Regen lässt den Gips quellen und zerfließen, so dass er seinen typischen Geruch verströmt, und beides zusammen, im Wechselspiel von Trockenheit und Nässe, bringt den Geruch der Zollstelle zur Entfaltung. Entscheidend dabei ist, dass man sich nicht daran gewöhnt. Denn Gewohnheiten sind tödlich. Selbst beim hundertsten Mal muss man allem und jedem entgegentreten, als ob man es nie zuvor gesehen hätte. Ganz gleich wie oft, es muss immer das erste Mal sein. Das ist so gut wie unmöglich, ich weiß, aber es ist eine unumstößliche Regel.

Man möchte meinen, das alles müsste früher oder später einmal enden. Die Dinge zerfallen und verschwinden, und Neues wird nicht hergestellt. Die Menschen sterben, und die Kinder weigern sich, auf die Welt zu kommen. Ich kann mich nicht erinnern, in all den Jahren, die ich hier bin, ein einziges Neugeborenes gesehen zu haben. Und doch treten immer wieder neue Menschen an die Stelle der verschwundenen. Karren ziehend, hochbeladen mit ihren Habseligkeiten, in stotternden, kaputten Wagen kommen sie, allesamt hungrig, allesamt heimatlos, vom Land und aus den umliegenden Ortschaften hereingeströmt. Bis sich diese Neuankömmlinge mit den Zuständen in der Stadt vertraut gemacht haben, sind sie leichte Beute. Viele von ihnen werden noch vor Ablauf des ersten Tages um ihr ganzes Geld betrogen. Manche bezahlen für Wohnungen, die es gar nicht gibt, andere lassen sich dazu verleiten, Aufträge für Arbeiten zu erteilen, die nie ausgeführt werden, wieder andere geben ihre Ersparnisse für Essen aus, das sich als bemalte Pappe entpuppt. Und dies sind nur die gewöhnlichsten Tricks. Ich kenne einen Mann, der davon lebt, dass er vor dem alten Rathaus steht und jedem Neuankömmling, der einen Blick auf die Turmuhr wirft, Geld abverlangt. Kommt es zum Streit, tritt sein Gehilfe als Ortsunkundiger auf, sieht nach der Uhr und bezahlt, damit der Fremde glaubt, dies sei hier so Brauch. Das Verblüffende daran ist nicht die Existenz solcher Schwindler, sondern wie mühelos sie die Leute dazu bringen, sich von ihrem Geld zu trennen.
    Wer einen Platz zum Leben hat, läuft stets Gefahr, ihn zu verlieren. Die meisten Gebäude gehören niemandem, folglich hat man als Mieter keine Rechte: keinen Mietvertrag, keinen gesetzlichen Rückhalt, wenn jemand sich mit einem anlegt. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Leute mit Gewalt aus ihren Wohnungen vertrieben und auf die Straße gesetzt werden. Eine Rotte platzt mit Keulen und Gewehren bei dir herein und befiehlt dir zu verschwinden, und wenn du nicht glaubst, sie überwältigen zu können, was bleibt dir anderes übrig? Räumen heißt das, und es gibt wenige Leute in der Stadt, die ihre Wohnungen nicht zu irgendeiner Zeit einmal auf diese Weise verloren haben. Aber selbst wenn man das Glück hat, dieser speziellen Form der Vertreibung zu entgehen, kann man nie

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