Im Land der letzten Dinge (German Edition)
und die Manuskriptblätter verzehrt hätten.
Danach wurde ihm alles unscharf. Er hatte das Geld in seiner Tasche, die Kleider auf seiner Haut, und das war alles. Zwei Monate lang tat er kaum etwas anderes als nach mir zu suchen – schlief, wo es gerade ging, und aß nur, wenn er unbedingt musste. Auf diese Weise gelang es ihm, sich über Wasser zu halten, doch gegen Ende des Sommers war sein Geld fast aufgebraucht. Und was noch schlimmer war, sagte er, er habe dann auch die Suche nach mir aufgegeben. Er war davon überzeugt, dass ich tot sei, und die Folter der falschen Hoffnung war ihm unerträglich geworden. Er zog sich in eine Ecke des Diogenes Terminal zurück – der alte Bahnhof im Nordwesten der Stadt – und lebte dort unter Obdachlosen und Verrückten, den Schattenmenschen, die in den langen Korridoren und verlassenen Wartesälen umherwanderten. Als wäre man zu einem Tier geworden, sagte er, zu einem unterirdischen Wesen, das sich zum Winterschlaf hingelegt habe. Ein- oder zweimal die Woche verdingte er sich bei irgendwelchen Plünderern und schleppte ihnen für einen Hungerlohn schwere Lasten, aber die meiste Zeit tat er gar nichts, rührte sich nur, wenn es unumgänglich war. «Ich gab den Versuch auf, irgendwer zu sein», sagte er. «Das Ziel meines Lebens bestand darin, mich aus meiner Umgebung zu entfernen, an einem Ort zu leben, wo mir nichts mehr weh tun konnte. Eine nach der anderen versuchte ich meine Bindungen zu lösen, allen Dingen zu entsagen, aus denen ich mir einmal etwas gemacht hatte. Meine Absicht war, Gleichgültigkeit zu empfinden, eine so starke und tiefe Gleichgültigkeit, dass sie mich vor weiteren Verletzungen schützen konnte. Ich nahm Abschied von dir, Anna; ich nahm Abschied von dem Buch; ich nahm Abschied von dem Gedanken, nach Hause zurückzukehren. Ich versuchte sogar, Abschied von mir selbst zu nehmen. Nach und nach wurde ich so heiter wie ein Buddha, ich saß in meiner Ecke und schenkte der Welt um mich her keine Beachtung mehr. Wäre mein Körper nicht gewesen – die gelegentlichen Forderungen meines Magens, meiner Eingeweide –, ich hätte mich vielleicht nie wieder bewegt. Nichts wollen, redete ich mir unablässig zu, nichts haben, nichts sein. Eine perfektere Lösung als die konnte ich mir nicht vorstellen. Am Ende führte ich fast das Leben eines Steins.»
Wir gaben Sam das Zimmer im ersten Stock, in dem zuvor ich gewohnt hatte. Er war in einer fürchterlichen Verfassung, und in den ersten zehn Tagen stand es bestenfalls auf Messers Schneide mit ihm. Ich verbrachte nahezu meine ganze Zeit bei ihm, vernachlässigte meine anderen Pflichten, so sehr es nur angehen mochte, und Victoria protestierte nicht. Das war es, was ich so bemerkenswert an ihr fand. Sie protestierte nicht nur nicht dagegen, sondern munterte mich nach Kräften dazu auf. Ihr Verständnis für die Situation, ihre Fähigkeit, das jähe, schier gewaltsame Ende unseres bisherigen Lebens hinzunehmen, hatte etwas geradezu Übernatürliches. Ständig war ich darauf gefasst, dass sie eine Machtprobe erzwingen würde, dass Enttäuschung oder Eifersucht bei ihr zum Ausbruch kämen, doch nichts dergleichen geschah. Ihre erste Reaktion auf die Neuigkeit war ein Glücksgefühl – Glück um meinetwillen, Glück über die Tatsache, dass Sam noch lebte –, und danach bemühte sie sich ebenso sehr wie ich, ihn wiederherzustellen. Sie selbst hatte einen Verlust erlitten, aber sie wusste auch, dass sein Dasein für Woburn House einen Gewinn bedeutete. Einen zusätzlichen Mann im Personal zu haben, zumal einen wie Sam – der weder alt war wie Frick, noch begriffsstutzig und unerfahren wie Willie –, dieser Gedanke allein reichte aus, ihr den Verlust zu ersetzen. Für meine Begriffe war eine solche Redlichkeit geradezu beängstigend, aber Victoria war eben nichts wichtiger als Woburn House – auch ich nicht, auch sie selbst nicht, falls so etwas vorstellbar ist. Ich will nicht allzusehr vereinfachen, aber im Laufe der Zeit beschlich mich langsam das Gefühl, sie habe mir nur erlaubt, mich in sie zu verlieben, damit ich wieder gesund werden könne. Nun, da es mir besser ging, verlagerte sie den Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit auf Sam. Woburn House war ihre einzige Realität, verstehst du, und am Ende gab es nichts, was dem nicht weichen musste.
Schließlich zog Sam zu mir in den dritten Stock. Allmählich nahm er zu, begann seinem früheren Selbst zu gleichen, doch nicht in allem wurde er wieder der alte – das war
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