Im Land der letzten Dinge (German Edition)
seit Monaten niemand mehr berührt – seit meiner letzten Nacht mit Sam –, und ich hatte fast vergessen, wie gut es tut, auf diese Weise gestreichelt zu werden. Victoria fuhr mit ihren Händen immer an meinem Rückgrat auf und ab, schob sie schließlich unter mein T-Shirt und legte ihre Finger auf meine nackte Haut. Es war ein umwerfendes Gefühl, und bald schwebte ich vor Wonne auf Wolken und glaubte, mein Körper müsse bersten. Doch kann ich mir nicht denken, dass hier schon eine von uns wusste, was geschehen würde. Es kam ganz langsam, mäanderte ohne bestimmtes Ziel von hier nach da. Irgendwann rutschte das Laken von meinen Beinen, und ich zog es gar nicht erst wieder hoch. Victorias Hände strichen in immer weiteren Bahnen über mich, kamen an meine Beine und Hinterbacken, streiften über meine Flanken und an meinen Schultern hinauf, und am Ende gab es keinen Körperteil mehr, der sich nicht nach ihrer Berührung sehnte. Ich drehte mich auf den Rücken, und da stand Victoria über mich gebeugt, nackt unter ihrem Bademantel, eine Brust hing aus dem offenen Spalt. Wie schön du bist, sagte ich zu ihr, ich glaube, ich möchte sterben. Ich stützte mich ein wenig auf und begann diese Brust zu küssen, diese runde und wunderschöne Brust, die so viel größer war als meine, küsste die weiche braune Aureole, bewegte meine Zunge über die Kreuzschraffur der blauen Venen unmittelbar unter der Oberfläche. In den ersten Augenblicken kam mir das bedenklich und schockierend vor, und ich hatte das Gefühl, ich wäre in eine Lust hineingeraten, die nur im Dunkel der Träume zu finden sei – doch dieses Gefühl währte nicht sehr lange, und dann ließ ich mich treiben und wurde buchstäblich fortgeschwemmt.
Die nächsten beiden Monate schliefen wir regelmäßig miteinander, und schließlich fühlte ich mich heimisch dabei. Die Arbeit in Woburn House war zu demoralisierend, wenn man niemanden hatte, auf den man zählen konnte, ohne einen festen Hafen, in dem man seine Gefühle verankern konnte. Zu viele Leute kamen und gingen, zu viele Leben bewegten sich an einem vorbei, und kaum hatte man jemanden ein wenig kennengelernt, packte er auch schon seine Sachen zusammen und ging. Dann kam ein anderer, schlief in dem Bett seines Vorgängers, saß auf dessen Stuhl, spazierte auf demselben Boden, und schließlich musste auch dieser wieder ausziehen, und das Ganze fing von vorne an. Im Gegensatz zu alldem waren Victoria und ich füreinander da – durch dick und dünn, wie wir zu sagen pflegten –, es war das einzige, was trotz aller Veränderungen um uns her konstant blieb. Dieses Bündnis machte es mir möglich, mich mit der Arbeit abzufinden, und dies wiederum wirkte sich beruhigend auf meine Stimmung aus. Dann trat etwas Neues ein, und wir konnten nicht mehr so weitermachen. Ich werde sofort darauf zu sprechen kommen, aber das Wichtige dabei war, dass sich im Grunde gar nichts wirklich änderte. Unser Bündnis blieb bestehen, und nun erfuhr ich endgültig, was für ein bemerkenswerter Mensch Victoria war.
Es war Mitte Dezember, etwa um die Zeit der ersten schlimmen Kältewelle. Dieser Winter erwies sich als nicht so brutal wie der vorige, aber das konnte ja niemand im Voraus wissen. Die Kälte ließ all die bösen Erinnerungen vom vergangenen Jahr wiederaufleben, und man spürte die Panik auf den Straßen zunehmen und die Verzweiflung, mit der die Menschen sich gegen die Attacke zu wappnen versuchten. Die Schlangen vor Woburn House wurden länger als in den Monaten zuvor, und ich musste Überstunden machen, wenn ich nur mit dem Ansturm Schritt halten wollte. Ich erinnere mich, an dem Morgen, von dem ich jetzt spreche, in rascher Folge zehn oder elf Personen empfangen und mir ihre schaurigen Geschichten angehört zu haben. Eine davon – sie hieß Melissa Reilly, eine Frau um die Sechzig – war so verzweifelt, dass sie weinend vor mir zusammenbrach, meine Hand umklammerte und mich anflehte, ihr bei der Suche nach ihrem verschwundenen Mann zu helfen, der im Juni fortgegangen sei und sich seither nicht mehr gemeldet habe. Was erwarten Sie von mir? sagte ich. Ich kann meinen Posten nicht verlassen und mit Ihnen durch die Straßen latschen, dafür gibt es hier viel zu viel Arbeit. Aber sie ließ nicht von ihrem Theater ab, und langsam machte ihre Aufdringlichkeit mich wütend. Hören Sie, sagte ich, Sie sind nicht die einzige Frau in dieser Stadt, die ihren Mann verloren hat. Meiner ist genauso lange weg wie Ihrer, und wenn
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