Im Land der Orangenbluten
verbrachte jetzt viel Zeit am Lager ihrer Nichte. »Ich hätte sie ja auch zu mir geholt«, erklärte sie Julie entschuldigend. »Aber hier«, sie bedachte Erika, Suzanna und Foni mit einem dankbaren Blick, »hier ist sie einfach besser aufgehoben. Außerdem wollte sie unbedingt hierbleiben, um deine Rückkehr nicht zu verpassen, das hat sie am Anfang immer wieder gesagt. Ich mache mir große Sorgen.«
Hatten die Frauen es bis vor kurzem noch geschafft, Martina löffelweise Wasser einzuflößen, so schien ihr Hals jetzt so geschwollen, dass man ihr nur noch ein paar Tropfen aus einem Lappen durch die Lippen rinnen lassen konnte.
Klara schüttelte den Kopf, als sie nach einer weiteren Untersuchung an Julie und Valerie herantrat. »Ich glaube, es dauert nicht mehr lange.«
Julie war entsetzt. »Können wir denn gar nichts mehr machen?«
Klara schüttelte den Kopf. »Jetzt liegt es in Gottes Hand.«
Julie setzte sich wieder neben Martinas Bett und nahm ihre Hand. Lange saß sie so da und dachte nach, bis sie plötzlich spürte, dass Martina ganz schwach ihre Hand drückte. Julie erschrak, hatte Martina in den letzten Tagen doch kaum noch ein Lebenszeichen von sich gegeben.
»Martina?«, flüsterte sie »Martina, kannst du mich hören?«
»Liebes ... wir sind hier.« Auch Valerie war nahe an Martina gerückt und streichelte ihr liebevoll die Stirn.
»Juliette ... Tante Valerie«, leise wie ein Windhauch flüsterte Martina die Namen.
»Ja, wir sind da, Martina.«
»Juliette ... du musst ... Martin ... bitte, ich möchte nicht ... Pieter.«
»Schsch ... Martina, du darfst dich nicht aufregen.« Juliette legte ihrer Stieftochter die Hand auf die Stirn, sie glühte förmlich. Sie überlegte kurz, ob sie vielleicht nur im Fieberwahn zu ihr sprach. Dann aber schlug Martina die Augen auf und fixierte Julie mit ihrem Blick. Ihre Worte kamen nun etwas deutlicher, auch wenn es sie offensichtlich übermenschliche Anstrengung kostete.
»Juliette, kümmere dich um Martin, bitte! Und überlass Pieter nicht die Plantage, versprich es mir, bitte! Tante Valerie, du musst ihr helfen! Juliette, du musst um die Plantage kämpfen. Pieter darf sie nicht ...«
Martinas Augen schlossen sich wieder, ihr Atem war flach und schnell.
»Martina ... Martina? Ich verspreche es dir! Ich werde mich um deinen Sohn kümmern. Und die Plantage ...«
»Es tut mir leid ... es tut mir alles so leid!«
»Martina, es ist alles gut, dir braucht nichts leidzutun.«
Juliette hätte nie gedacht, dass ihr Martinas Tod so nahegehen würde. Oder war es die nervliche Belastung der ganzen letzten Monate oder gar der letzten Jahre, die ihr so zusetzten? Als Martina ihren letzten Atemzug genommen hatte, starrte Julie sie wie in Trance an. Erst als Erika sie an den Schultern packte und sanft aus dem Zimmer führte, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie weinte und weinte, als würden diese Tränen nie versiegen wollen. Nicht einmal Jean durfte sie trösten. Doch irgendwann hatte sie keine Tränen mehr, sie legte sich auf ihr Bett und starrte an die Decke, bis der Schlaf sie übermannte. Sie schlief zwei Tage und zwei Nächte. Am dritten Tag erwachte sie, als die Morgensonne den Raum erhellte. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und beobachtete, wie kleine Staubflocken durch die Sonnenstrahlen tanzten. Das hatte sie als Kind immer schon gern gemacht. Als Kind ...
Julie ließ ihren Gedanken freien Lauf, vor ihrem inneren Auge lief ihr bisheriges Leben ab. Der Verlust ihrer Eltern, die Internatszeit, der verhasste Onkel, ihre Bekanntschaft mit Karl, die Reise nach Surinam. Das Resümee war ernüchternd. Sie war fast zweiundzwanzig Jahre alt, hatte in ihrem ganzen Leben jedoch noch nie selbstbestimmt etwas getan. Außer vielleicht in den letzten Wochen. Sonst hatten immer andere entschieden, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Aber im Grunde war sie jetzt frei, sie hatte keinen Onkel mehr im Nacken, der ihr etwas befahl, und keinen Mann, der sie zu etwas zwang. Sie hatte ein wunderbares Kind und sie hatte Jean. Und ihr stand ein Stück der Plantage zu, auch wenn Pieter darüber sicher anders dachte, denn die Plantage wurde mit ihrem Geld finanziert, mit dem Erbe ihrer Eltern. Und, so beschloss sie in diesem Moment, in dem sie dasaß und den Staubflocken zusah: Sie würde um die Plantage kämpfen! Für sich, für Henry und Martin und die vielen anderen Menschen, die von dieser Plantage abhängig waren. Das Schicksal hatte ihr die Plantage als Heimat
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