Im Land der Regenbogenschlange
mich, will aufhängen, als Otis laut dazwischenruft und ohne die geringsten Anzeichen eines epileptischen Anfalls meint: »Ich sehe gerade, dass für übermorgen ein Bus von Adelaide nach Perth geplant ist, interessiert dich der, willst du den buchen?«
Sind das nicht Glanzpunkte des Reisens? Diese Begegnungen der dritten Art? Ich hüpfe wieder vor Freude von einem Bein auf das andere. Was ich immer tue, wenn mir etwas widerfährt, was ich nicht glauben würde, wäre ich nicht selbst dabei gewesen.
Nächster Anruf. Und nun passiert etwas ganz Ãhnliches. Und vollkommen anderes. Ich wähle eine aus Europa mitgebrachte Telefonnummer. Wieder von Freunden, die hier eine ferne Verwandte haben. Und ich rufe die Ferne an, jemand hebt ab, ich stelle mich vor und Inne S., die nie von mir gehört hat, absolut nichts weià über mich, sagt, nachdem ich erklärt habe, von wem ich ihre Nummer habe: »It's wonderful to hear from you, Andreas, yes, we must meet.« Und ohne ein überzähliges Wort zu verlieren, gibt sie mir die Adresse des Burswood Casinos durch. »Wednesday at 4.30 pm, is this ok for you, Andreas?« Absolut o.k., nichts ist selbstverständlicher, als eine wildfremde 77-Jährige am helllichten Nachmittag zwischen 1500 Einarmigen Banditen zu treffen. Voller Begeisterung hänge ich ein. Wieder die dritte Art. Später fällt mir ein, dass ich auch so sein will als Greis. Ohne Miss-trauen, sonnenklar im Kopf, neugierig auf andere.
Schöne Tage in Perth. Auf der letzten Busfahrt hat mir jemand den King's Park empfohlen. Könnte ich den Mann wiedertreffen, ich würde mich vor ihn hinknien und für den Rat bedanken. Die 400 Hektar sind auch ein Geschenk, aus drei Gründen: der überwältigend schöne Garten, die auÃergewöhnliche Weise, mit der hier der Kriegstoten gedacht wird und der Blick in den Abgrund delirierender Bürokraten. Damit soll der Besuch beginnen, er sorgt für Fröhlichkeit. Umso besser, da man bald von einem ganz anderen Gefühl heimgesucht wird.
Am Eingang steht eine groÃe Tafel mit den Park Regulations , wer nachzählt, kommt auf 71 Verbote. Schon schnelles Gehen â »not more than nine km/h« â ist untersagt, geahndet werden ebenfalls alle, die sich hier »unerlaubt verheiraten«, nicht anders als jene, die beim »Zerstören von Blumen ohne Erlaubnis « ertappt werden (»ohne Erlaubnis« ist kaum zu toppen). Gipfel unstaatsbürgerlichen Verhaltens ist jedoch das »unlawful impersonating of the Park Manager Officer«, sprich, keiner soll hier vorbeikommen und so tun, als wäre er der Chef. Wie antwortete Günter Grass auf die Frage, was er als Diktator zuerst abschaffen würde: »Das deutsche Beamtengesetz.« Das deutsche nur? Der Mann hat keine Ahnung.
Das Schönste des riesigen Geländes sind die zwei Avenues, flankiert an beiden Seiten von hohen Eukalyptusbäumen. Am Fuà eines jeden Stamms verweist eine Plakette auf einen jungen Menschen, der im Ersten Weltkrieg fiel. In Italien, in Frankreich, in der Türkei, in Ãgypten, in Deutschland. Australien hatte â proportional zu seiner damaligen Bevölkerung von fünf Millionen â öfter zu trauern als jede andere Nation. 65 Prozent aller Soldaten wurden entweder verwundet (über 150â000) oder getötet (über 60â000), alles Freiwillige.
Einfühlsame Idee. Sich mit Hilfe eines Baums auf jemanden zu besinnen geht viel näher, als vor einem kalten, viereckigen Stein zu stehen. Zudem sind die Alleen von einem Märchenwald umgeben. Hier fünf von vielen Namen:
Arnold H. Leave, killed in action, aged 21,
planted by his uncle
Franck Leslie Halle, died of wounds, aged 23,
planted by his mother
J. Shaw Anderson, killed in action, aged 19,
planted by his father
Charles D. Jones, killed in action, aged 20,
planted by his father
William Davis, killed in action, aged 33,
planted by his friend
Irgendwann fange ich haltlos zu heulen an. Und weià nicht einmal, warum. Es gibt wohl Augenblicke, da hält man die Welt nicht aus. Ich setze mich, lehne mich an. Gut, dass niemand in der Nähe ist. Die gestrigen Fernsehbilder fallen mir ein, Nachrichten aus Bagdad und der Schmerzensschrei einer Mutter, die sich nach vorne beugte, als wollte sie ihre toten Kinder schützen. Den Schrei muss man gehört haben. Man wird ihn vergessen, aber nicht morgen, nicht übermorgen.
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