Im Land der weissen Rose
fremden
Leuten ausliefern muss und dann vielleicht nie wieder sehe!«
»Eben wolltest du sie noch loswerden!«, rief Gwyneira
lachend. »Und immerhin können sie lesen und schreiben. Ihr
könntet Briefe tauschen. Und wir auch! Wenn ich nur wüsste,
wie weit Haldon und Kiward Station voneinander entfernt sind! Beides
ist in den Canterbury Plains, aber wo liegt was? Ich will dich
nämlich nicht verlieren, Helen! Wäre es nicht schön,
wenn wir einander besuchen könnten?«
»Das können wir bestimmt!«, sagte Helen
zuversichtlich. »Howard muss nahe bei Christchurch leben, sonst
würde er ja nicht zur dortigen Gemeinde gehören. Und Mr.
Warden hat sicher viel in der Stadt zu tun. Wir sehen uns, Gwyn,
bestimmt!«
Â
7
Die Reise neigte sich nun wirklich ihrem Ende zu. Die Dublin
durchsegelte die Tasmanische See zwischen Australien und Neuseeland,
und die Passagiere im Zwischendeck überboten sich mit Gerüchten
darüber, wie nahe man dem neuen Land bereits sei. Manche
kampierten schon morgens vor Sonnenaufgang an Deck, um als Erste
einen Blick auf ihre neue Heimat zu werfen.
Elizabeth war hingerissen, als Jamie O’Hara sie deshalb
einmal weckte, doch Helen befahl ihr streng, im Bett zu bleiben. Sie
wusste von Gwyneira, dass es noch zwei oder drei Tage dauern würde,
bis das Land in Sicht kam, und dann würde der Kapitän sie
rechtzeitig informieren.
Schließlich geschah es dann sogar am helllichten Vormittag:
Der Kapitän ließ die Schiffssirene jaulen, und in
Sekundenschnelle versammelten sich sämtliche Passagiere auf dem
Hauptdeck. Gwyneira und Gerald standen natürlich in der ersten
Reihe, sahen aber vorerst nichts als Wolken. Eine lang gezogene weiße
Watteschicht verdeckte den Blick auf das Land. Hätte die
Mannschaft den Einwanderern nicht versichert, dass sich die Südinsel
dahinter verbarg, hätten sie dem Wolkenphänomen kaum
besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Erst als sie sich dem Ufer näherten, zeichneten sich Berge im
Nebel ab, schroffe Felskonturen, hinter denen sich wiederum Wolken
auftürmten. Es sah seltsam aus, so, als schwebe das Gebirge in
dem leuchtenden, wattigen Weiß.
»Ob es wohl immer so neblig ist?«, fragte Gwyneira
wenig begeistert. So schön der Anblick war – sie konnte
sich gut vorstellen, wie feucht und kühl der Ritt über den
Pass werden würde, der Christchurch von Aderanlegestelle der
Hochseeschiffe trennte. Der Hafen, so hatte Gerald ihr erklärt,
werde Lyttelton genannt. Der Ort sei aber noch im Aufbau, und selbst
zu den ersten Häusern führe ein mühsamer Aufstieg.
Nach Christchurch selbst müsse man laufen oder reiten –
wobei der Weg teilweise so steil und schwierig sei, dass die Pferde
von Ortskundigen am Zaumzeug geführt werden müssten. Daher
hatte der Weg seinen Namen: Bridle Pass.
Gerald schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist eher
ungewöhnlich, dass sich dem Reisenden ein solcher Anblick
bietet. Und sicher bringt es Glück ...« Er lächelte,
offensichtlich zufrieden, seine Heimat wiederzusehen. »Schließlich
heißt es, dass sich das Land den Reisenden im allerersten Kanu,
das Menschen aus Polynesien nach Neuseeland brachte, genauso darbot.
Daher hat Neuseeland auch seinen Maori-Namen – aotearoa, Land
der großen weißen Wolke.«
Helen und ihre Mädchen blickten fasziniert auf das
Naturschauspiel.
Daphne allerdings schien beunruhigt.»Es gibt gar keine
Häuser«,sagte sie verblüfft. »Wo sind die Docks
und die Hafenanlagen? Wo sind die Kirchtürme? Ich sehe nur
Wolken und Berge! Es ist ganz anders als London.«
Helen versuchte, ermutigend zu lachen, obwohl sie Daphnes
Erschrecken im Grunde teilte.Auch sie war ein Stadtkind, und dieses
Übermaß an Natur erschien ihr befremdlich. Immerhin hatte
sie aber schon verschiedene englische Landschaften gesehen, während
die Mädchen nur die Straßen der Großstadt kannten.
»Es ist natürlich nicht London, Daphne«, erklärte
sie. »Die Städte hier sind viel kleiner.Aber einen
Kirchturm hat Christchurch auch, es wird sogar eine große
Kathedrale bekommen wie Westminster Abbey! Du kannst die Häuser
bloß noch nicht sehen, weil wir nicht direkt in der Stadt
anlegen. Wir müssen ... äh, müssen wohl ein bisschen
laufen, bis ...«
»Ein bisschen laufen?« Gerald Warden hatte ihre Worte
gehört und lachte
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