Im Land Der Weissen Wolke
Sohn böse Blicke zu. Lucas ging daraufhin wortlos hinaus. Zwischen Vater und Sohn brodelte es seit Wochen. Gerald konnte Lucas dessen Unfähigkeit bei der Farmarbeit nicht verzeihen, und Lucas war wütend auf Gerald, weil der ihn zwang, mit den Männern zu reiten. Gwyneira hatte oft das Gefühl, zwischen den Fronten zu stehen. Und sie hatte immer mehr den Eindruck, dass Gerald wütend auf sie war.
Im Winter fiel auf den Weiden weniger Arbeit an, bei der Gwyneira helfen konnte, und Cleo fiel ohnehin für einige Wochen aus. Umso häufiger lenkte Gwyn ihre Stute zur Farm der O’Keefes. Sie hatte während des Viehtriebs einen deutlich kürzeren Weg querfeldein gefunden und besuchte Helen nun mehrmals in der Woche. Helen war glücklich darüber. Die Farmarbeit fiel ihr mit fortschreitender Schwangerschaft schwerer, und ihr Maultier zu reiten erst recht. Sie kam kaum noch nach Haldon, um mit Mrs. Candler Tee zu trinken. Am liebsten verbrachte sie ihre Tage mit dem Studium der Maori-Bibel und dem Nähen von Kinderkleidung.
Natürlich unterrichtete sie nach wie vor die Maori-Kinder, die ihr viel Arbeit abnahmen. Den größten Teil des Tages aber war sie allein. Auch deshalb, weil Howard gegen Abend gern noch auf ein Bier nach Haldon ritt und oft erst spät zurückkehrte. Gwyneira war deshalb besorgt.
»Wie willst du Matahorua benachrichtigen, wenn die Geburt einsetzt?«, erkundigte sie sich. »Du kannst dann doch unmöglich selbst hingehen!«
»Mrs. Candler will mir Dorothy herschicken. Aber das gefällt mir nicht ... das Haus ist so klein, sie müsste im Stall schlafen. Und soviel ich weiß, werden Kinder immer nachts geboren. Das heißt, Howard ist da.«
»Ist das sicher?«, fragte Gwyneira verwundert. »Meine Schwester hat ihr Kind gegen Mittag bekommen.«
»Aber die Wehen dürften nachts eingesetzt haben«, erklärte Helen im Brustton der Überzeugung. Sie wusste inzwischen wenigstens die grundlegenden Dinge über Schwangerschaft und Geburt. Nachdem Rongo Rongo in gebrochenem Englisch die abenteuerlichsten Geschichten erzählte, hatte Helen ihren ganzen Mut zusammengenommen und Mrs. Candler um Aufklärung gebeten. Die hatte das ganz sachlich gemeistert. Immerhin hatte sie drei Söhne geboren, und auch das nicht unter den zivilisiertesten Umständen. Helen wusste nun, womit eine Geburt sich ankündigte und was dazu vorbereitet werden musste.
»Wenn du meinst.« Gwyneira war immer noch nicht überzeugt. »Aber das mit Dorothy solltest du dir noch mal überlegen. Ein paar Nächte im Stall wird sie schon überstehen. Doch wenn du das Kind ganz allein bekommen müsstest, könntest du sterben.«
Je näher die Geburt rückte, desto eher war Helen geneigt, Mrs. Candlers Angebot anzunehmen. Auch deshalb, weil Howard immer seltener zu Hause war. Ihr Zustand schien ihm peinlich zu sein; offensichtlich mochte er das Bett nicht mehr gern mit ihr teilen. Wenn er dann spät aus Haldon zurückkam, stank er nach Bier und Whiskey, und oft polterte er beim Zubettgehen so sehr herum, dass Helen bezweifelte, er würde den Weg zum Maori-Dorf überhaupt noch finden. So zog Dorothy tatsächlich Anfang August bei ihr ein. Allerdings weigerte sich Mrs. Candler, das Mädchen im Stall schlafen zu lassen.
»Bei aller Liebe, Miss Helen, aber das geht nicht. Ich sehe doch, in welchem Zustand Mr. Howard hier nachts wegreitet. Und Sie sind ... ich meine, er hat ... Er dürfte es vermissen, das Bett mit einer Frau zu teilen, wenn Sie verstehen. Wenn er dann in den Stall kommt und findet ein halbwüchsiges Mädchen vor ...«
»Howard ist ein Ehrenmann!«, verteidigte Helen ihren Gatten.
»Ein Ehrenmann ist auch ein Mann«, gab Mrs. Candler trocken zurück. »Und ein betrunkener Mann ist so gefährlich wie der andere. Dorothy wird im Haus schlafen. Ich rede mit Mr. Howard.«
Helen machte sich Sorgen wegen dieser Auseinandersetzung, doch sie erwiesen sich als unbegründet. Nachdem er Dorothy abgeholt hatte, trug Howard ganz selbstverständlich sein Bettzeug in den Stall und schlug dort sein Lager auf.
»Das macht mir nichts«, meinte er ritterlich. »Ich hab schon schlechter geschlafen. Und die Tugend der Kleinen muss gewahrt werden, da hat Mrs. Candler schon Recht. Nicht, dass sie in Verruf kommt!«
Helen bewunderte Mrs. Candlers Sinn für Diplomatie. Offensichtlich hatte sie damit argumentiert, dass Dorothy eine Anstandsdame benötige und sich auch nach der Geburt keinesfalls nachts um Helen und das Kind kümmern könne, wenn Howard im
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