Im Land Der Weissen Wolke
»Wirklich?«
»Sieht so aus ...«, meinte Gwyn.
Rongo griff nach einem Messer, das sie vorhin bereitgelegt hatte, und durchtrennte die Nabelschnur. »Jetzt muss atmen!«
Das Baby atmete nicht nur, es kreischte gleich los.
Gwyneira strahlte. »Sieht aus, als wär’s gesund!«
»Sicher gesund ... ich gesagt, gesund ...« Die Stimme kam von der Tür. Matahorua, die Maori- tohunga , trat ein. Zum Schutz gegen die Kälte und Nässe hatte sie eine Decke um ihren Körper gewunden und mit einem Gürtel befestigt. Ihre vielen Tätowierungen waren deutlicher zu sehen als sonst, denn die alte Frau war blass von der Kälte, vielleicht auch vor Müdigkeit.
»Mir tut Leid, aber andere Baby ...«
»Ist das andere Baby auch gesund?«, fragte Helen matt.
»Nein. Gestorben. Aber Mama leben. Du schöne Sohn!«
Matahorua übernahm jetzt das Regiment in der Wochenstube. Sie wischte den Kleinen ab und trug Dorothy auf, heißes Wasser für ein Bad aufzusetzen. Vorerst legte sie das Baby in Helens Arme.
»Mein kleiner Sohn ...«, flüsterte Helen. »Wie winzig er ist ... ich werde ihn Ruben nennen, nach meinem Vater.«
»Hat Howard da nicht auch mitzureden?«, fragte Gwyneira. In ihren Kreisen war es üblich, dass der Vater zumindest den Namen der männlichen Kinder bestimmte.
»Wo ist Howard?«, fragte Helen verächtlich. »Er wusste, dass das Kind in diesen Tagen kommen würde. Aber statt bei mir zu sein, hockt er in der Kneipe und versäuft das Geld, das er mit seinen Hammeln verdient hat. Er hat kein Recht, meinem Sohn einen Namen zu geben!«
Matahorua nickte. »Richtig. Ist dein Sohn.«
Gwyneira, Rongo und Dorothy badeten das Baby. Dorothy hatte endlich zu weinen aufgehört und konnte sich an dem Kind nun gar nicht satt sehen.
»Er ist so süß, Miss Gwyn! Schauen Sie, er lacht schon!«
Gwyneira dachte weniger über die Grimassen nach, die der Kleine zog, als über den Vorgang seiner Geburt. Abgesehen davon, dass es länger dauerte, hatte sich das alles hier nicht von Fohlengeburten und Ablammen unterschieden, auch nicht der Abgang der Nachgeburt. Matahorua riet Helen, diese an einem besonders schönen Ort zu vergraben und einen Baum darauf zu pflanzen.
» Whenua zu whenua – Land«, sagte sie.
Helen versprach, der Tradition Genüge zu tun, während Gwyneira weiter grübelte.
Wenn die Geburt eines Menschenkindes ähnlich verlief wie bei Tieren, galt dies wahrscheinlich auch für die Zeugung. Gwyneira wurde zwar rot, wenn sie sich den Vorgang vor Augen führte, aber sie ahnte jetzt ziemlich genau, was bei Lucas falsch lief ...
Schließlich lag Helen glücklich in ihrem frisch bezogenen Bett, das schlafende Baby im Arm. Getrunken hatte es auch schon – Matahorua bestand darauf, es Helen anzulegen, obwohl der Vorgang ihr peinlich war. Sie hätte das Kind lieber mit Kuhmilch großgezogen.
»Ist gut für Baby. Kuhmilch gut für Kalb«, erklärte Matahorua kategorisch.
Wieder eine Parallele zu den Tieren. Gwyn hatte heute Nacht viel gelernt.
Helen fand inzwischen Zeit, auch wieder an andere zu denken. Gwyn war wunderbar gewesen. Was hätte sie nur ohne ihre Unterstützung getan? Aber jetzt hatte sie ja gerade Gelegenheit, sich ein wenig zu revanchieren.
»Matahorua,« wandte sie sich an die tohunga . »Dies ist meine Freundin, von der wir neulich sprachen. Die mit der ... der ...«
»Die meint, sie nicht kriegt Baby?«, fragte Matahorua und warf einen prüfenden Blick auf Gwyneira, auf ihre Brüste, ihren Unterleib. Was sie sah, schien ihr zu gefallen. »Doch, doch«, verkündete sie schließlich. »Schöne Frau. Ganz gesund. Kann haben viele Babys, gute Babys ...«
»Aber sie versucht es schon so lange ...«, meinte Helen zweifelnd.
Matahorua zuckte die Schultern.
»Versuch mit andere Mann«, riet sie gelassen.
Gwyneira fragte sich, ob sie jetzt wirklich noch nach Hause reiten sollte. Es war längst dunkel, kalt und neblig. Andererseits würden Lucas und die anderen sich zu Tode fürchten, wenn sie einfach ausblieb. Und was würde Howard O’Keefe sagen, wenn er womöglich betrunken nach Hause kam und eine Warden in seinem Hause fand?
Die Antwort auf Letzteres schien sich bereits anzukündigen. Im Stall hantierte jemand. Allerdings hätte Howard in seinem eigenen Haus kaum angeklopft. Dieser Besucher hingegen meldete sich artig an.
»Mach auf, Dorothy!«, befahl Helen verwundert.
Gwyn war schon an der Tür. Ob Lucas hergekommen war, um sie zu suchen? Sie hatte ihm von Helen erzählt, und er hatte sehr
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