Im Land Der Weissen Wolke
Aufwand. Es fordert den Kindern einiges ab. Wenn sie Heimweh haben, gehen sie nach Hause – zu Fuß! Und der Kleine da hat dauernd Heimweh!«
Sie wies auf einen hübschen Jungen mit lockigen schwarzen Haaren.
Gwyneira fielen James’ Bemerkungen zu den Maoris wieder ein und dass zu kluge Kinder den Weißen gefährlich werden könnten.
Helen zuckte die Schultern, als Gwyn ihr davon erzählte. »Wenn ich sie nicht unterrichte, tut es jemand anders. Und wenn es nicht diese Generation lernt, dann die nächste. Außerdem ist es ein Ding der Unmöglichkeit, Menschen die Bildung zu verweigern!«
»Nun reg dich nicht auf.« Gwyneira hob beschwichtigend die Hand. »Ich bin die Letzte, die dich hindert. Aber es wäre auch nicht gut, wenn es Krieg gäbe.«
»Ach, die Maoris sind friedlich«, winkte Helen ab. »Sie wollen von uns lernen. Ich glaube, sie haben erkannt, dass Zivilisation das Leben leichter macht. Außerdem ist es hier sowieso anders als in den sonstigen Kolonien. Die Maoris sind keine Ureinwohner. Sie sind selbst Einwanderer.«
»Im Ernst?« Gwyneira staunte. Davon hatte sie noch nie gehört.
»Ja. Natürlich sind sie schon viel, viel länger da als wir«, sagte Helen. »Aber nicht seit undenklichen Zeiten. Es heißt, sie kamen ungefähr Anfang des 14. Jahrhunderts. Mit sieben Doppelkanus, das wissen sie noch genau. Jede Familie kann ihre Herkunft auf die Besatzung eines dieser Kanus zurückverfolgen ...«
Helen sprach inzwischen recht gut Maori und lauschte Matahoruas Erzählungen mit zunehmendem Verständnis.
»Also gehört ihnen das Land auch nicht?«, fragte Gwyneira hoffnungsvoll.
Helen verdrehte die Augen. »Wenn es hart auf hart kommt, werden sich wahrscheinlich beide Teile auf das Recht des Entdeckers berufen. Hoffen wir, dass sie sich friedlich einigen. So, und jetzt bringe ich ihnen Rechnen bei – ob das meinem Gatten und deinem Mr. Gerald nun passt oder nicht.«
Sah man von der Kälte zwischen Gwyneira und James ab, war die Stimmung auf Kiward Station zurzeit ausgezeichnet. Gerald hatte die Aussicht auf seinen Enkel beflügelt. Er kümmerte sich wieder mehr um die Farm, verkaufte mehrere Zuchtwidder an andere Viehzüchter und verdiente damit gutes Geld. James nutzte die Gelegenheit, die Tiere zu ihren neuen Besitzern zu treiben, um tagelang von Kiward Station wegzubleiben. Er ließ auch weitere Rodungen durchführen, um mehr Weideland zu erschließen. Bei den Berechnungen, welche Flüsse sich zum Flößen nutzen ließen und welches Holz wertvoll war, machte sich sogar Lucas nützlich. Er klagte zwar über den Verlust der Wälder, protestierte aber nicht energisch – schließlich war er froh, dass Geralds Spott ihm gegenüber verstummt war. Die Frage, wie das Kind entstanden sein konnte, stellte er nie. Vielleicht hoffte er auf einen Zufall, vielleicht wollte er es einfach nicht wissen. Es gab ohnehin nicht allzu viel Zweisamkeit, die solche peinlichen Gespräche ermöglicht hätte. Lucas stellte seine nächtlichen Besuche sofort ein, nachdem Gwyneira ihre Schwangerschaft offenbart hatte. Seine »Versuche« hatten ihm also nie wirklich Lust bereitet. Dafür genoss er es, seine schöne Frau zu porträtieren. Gwyneira saß brav für ein Ölbild, und nicht einmal Gerald lästerte über dieses Unterfangen. Als Mutter der kommenden Generationen gebührte Gwyneiras Porträt ein Ehrenplatz neben dem Bild seiner Ehefrau Barbara. Das fertige Ölbild fanden dann auch alle sehr gelungen. Lucas selbst war nicht ganz zufrieden. Er fand, er habe Gwyneiras »geheimnisvollen Ausdruck« nicht perfekt getroffen, und auch der Lichteinfall erschien ihm nicht optimal. Doch alle Besucher lobten das Bild überschwänglich. Lord Brannigan bat Lucas sogar, auch ein Porträt seiner Lady zu malen. Gwyneira erfuhr, dass dafür in England gutes Geld bezahlt wurde, doch Lucas hätte es selbstverständlich als ehrenrührig empfunden, auch nur einen Penny von seinen Nachbarn und Freunden zu fordern.
Gwyn sah nicht ein, wo der Unterschied zwischen dem Verkauf eines Bildes und eines Schafes oder Pferdes lag, doch sie stritt sich nicht und vermerkte erleichtert, dass auch Gerald die mangelnde Geschäftstüchtigkeit seines Sohnes nicht tadelte. Im Gegenteil, er schien zum ersten Mal beinahe stolz auf Lucas zu sein. Im Haus herrschte eitel Sonnenschein und Harmonie.
Als die Geburt näher rückte, bemühte Gerald sich vergeblich um einen Arzt für Gwyneira, denn dies hätte bedeutet, dass Christchurch wochenlang ohne
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