Im Land Der Weissen Wolke
fand es ziemlich riskant von James, sein Interesse so deutlich zu zeigen. Vor allem aber sehnte sie sich nach ihm und seiner tröstlichen Nähe. Sie hätte gern seine Hand auf ihrem Bauch gespürt und die atemlose Freude an den Bewegungen des Kindes in ihrem Leib mit ihm geteilt. Wann immer der Kleine »boxte«, dachte sie an sein glückliches Gesicht beim Anblick des neugeborenen Ruben und erinnerte sich an eine Szene im Pferdestall, als Igraine hoch tragend gewesen war.
»Fühlen Sie das Fohlen, Miss Gwyn?«, hatte er strahlend bemerkt. »Es bewegt sich. Sie müssen jetzt mit ihm sprechen, Miss Gwyn! Dann kennt es Ihre Stimme schon, wenn es auf die Welt kommt.«
Jetzt sprach sie mit ihrem Baby, dessen Nest schon so perfekt vorbereitet war. Seine Wiege stand neben ihrem Bett, ein Traum aus blauer und goldgelber Seide, von Kiri nach Lucas’ Anweisungen errichtet. Sogar sein Name stand schon fest: Paul Gerald Terence Warden – Paul nach Geralds Vater.
»Den nächsten Sohn können wir dann nach deinem Großvater benennen, Gwyneira«, erklärte Gerald großzügig. »Aber ich möchte zuerst einmal eine gewisse Tradition begründen ...«
Gwyneira war der Name im Grunde gleichgültig. Ihr wurde das Kind jetzt täglich schwerer; es war Zeit, dass es zur Welt kam. Sie ertappte sich dabei, die Tage zu zählen und mit ihren Abenteuern im vergangenen Jahr zu vergleichen. »Wenn es heute kommt, wurde es am See gezeugt ... Wenn es bis nächste Woche wartet, ist es ein Nebelkind ... Ein kleiner Krieger, entstanden im Steinkreis ...« Gwyneira erinnerte sich an jede Nuance von James’ Zärtlichkeiten, und manchmal weinte sie sich vor Sehnsucht in den Schlaf.
Die Wehen setzten an einem Tag im späten November ein, als das Wetter einem Junitag im fernen England entsprach. Nachdem es in den letzten Wochen oft geregnet hatte, ging an diesem Tag strahlend die Sonne auf, die Rosen im Garten erblühten, und die bunten Frühlingsblumen, die Gwyneira eigentlich viel mehr liebte, entfalteten ihre ganze Pracht.
»Wie hübsch das ist!«, schwärmte Francine, die den Frühstückstisch für ihren Schützling an dem Erkerfenster in Gwyneiras Räumen gedeckt hatte. »Ich muss meine Mutter unbedingt überreden, ein paar Blumen zu pflanzen, in unserem Garten wächst nur Gemüse. Aber immerhin gibt es einen Rata-Strauch.«
Gwyneira wollte gerade erwidern, dass sie sich gleich bei ihrer Ankunft in Neuseeland in diesen Strauch mit seiner verschwenderischen Fülle roter Blüten verliebt hatte, als sie den Schmerz spürte. Gleich darauf platzte die Fruchtblase.
Gwyneira hatte keine leichte Geburt. So gesund sie war, so gut entwickelt war auch ihre Unterleibsmuskulatur. Anders als ihre Mutter vermutete, hatte das viele Reiten nicht zu einer Fehlgeburt geführt, sondern erschwerte dem Kind eher den Durchgang durchs Becken. Francine versicherte ihr zwar ständig, dass alles in Ordnung sei und das Kind perfekt läge, aber das hinderte Gwyneira nicht daran zu schreien, sogar zu fluchen. Lucas hörte es ja nicht. Zum Glück weinte hier wenigstens niemand – Gwyn wusste nicht, ob sie Dorothys Gejammer ausgehalten hätte. Kiri, die Francine zur Hand ging, blieb jedenfalls ruhig.
»Kind gesund. Gesagt Matahorua. Immer Recht.«
Vor der Wochenstube war dagegen die Hölle los. Gerald war zuerst angespannt, dann besorgt, und am Ende des Tages brüllte er jeden an, der sich ihm näherte, und betrank sich bis zur Bewusstlosigkeit. Die letzten Stunden der Geburt verschlief er in seinem Sessel im Salon. Lucas sorgte und betrank sich maßvoll, wie es seine Art war. Auch er schlummerte schließlich ein, doch sein Schlaf war nur leicht. Sobald sich im Flur vor Gwyneiras Gemächern etwas regte, hob er den Kopf, und Kiri musste ihn auch in der zweiten Hälfte der Nacht mehrmals auf den neuesten Stand der Dinge bringen.
»Mr. Lucas so aufmerksam!«, berichtete sie Gwyneira.
James McKenzie hingegen schlief nicht. Er verbrachte den Tag in äußerster Anspannung und schlich sich bei Nacht in den Garten vor Gwyneiras Fenster. So war er der Einzige, der ihre Schreie hörte. Hilflos, mit geballten Fäusten und Tränen in den Augen wartete er. Niemand sagte ihm, ob alles in Ordnung war; er fürchtete bei jedem Weinen um Gwyns Leben.
Schließlich schob sich etwas Pelziges, Weiches an ihn heran. Noch jemand, der vergessen worden war. Francine hatte Cleo erbarmungslos aus Gwyns Zimmer verbannt, und weder Lucas noch Gerald hatten sich um sie gekümmert. Jetzt winselte
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