Im Land des Falkengottes. Tutanchamun
Nassib suchte, und ließ ihn nicht einen Wimpernschlag aus den Augen. Ich sah, wie er seine vollen Lippen spitzte, wie sich die Stirn in Falten legte und sein Blick immer neugieriger wurde. Dann gab er seine Suche auf und wandte sich dem Ersten Sehenden zu.
«Sagt mir, Sethi», und Nassibs Stimme klang jetzt besonders ernst und erwachsen. «Nennt Ihr auch eine Träne des Re Euer Eigen?»
Kaum dass er dies gesagt hatte, sah Nassib mich an. Ohne jeden Zweifel würde sein Gesicht gleich erstrahlen wie das eines Feldherrn, der in einem gewaltigen Siegeszug heimkehrt, wenn Sethi seine Frage verneinen musste. Das Zögern des Priesters verunsicherte ihn, und so ließen seine Blicke von mir ab, um sich an die Augen Sethis zu heften.
«Die Tränen des Re», sagte dieser mit wohltönender Stimme und wiederholte noch einmal: «Die Tränen des Re beschäftigen die Menschen seit urewigen Zeiten, Majestät. Hier bei uns werdet Ihr sie jedoch nicht finden.»
«Weil es sie nicht gibt?», hakte Nassib ungeduldig nach.
«Es gibt sie, Majestät. Oh ja, es gibt sie, dessen bin ich mir gewiss. Man erzählt sich, dass diese Mauern schon einmal eine dieser Tränen zu ihren Schätzen gezählt haben. Und man erzählt sich weiter, dass sie in den Grabschatz von Osiris Thutmosis Aa-chepru-Re gelangt sein soll.»
«Wisst Ihr es, oder vermutet Ihr es nur?», hakte Nassib nach und blickte neugierig zu dem Priester hinüber.
Wie aus einem Versteck trat Sethi aus dem Schatten der Säule heraus, und sogleich ließ das Licht einer Fackel seinen kahlen Schädel hell aufblitzen.
«Majestät», begann er langsam und bedeutungsvoll. «Noch vor wenigen Augenblicken sagte ich Euch, dass wir die Hüter des größten aller Schätze sind. Das mag ich auch jetzt nicht leugnen. Ich selbst habe noch nie eine Träne des Re gesehen. Und ich gebe zu, dass ich in der Regel nur an Dinge glaube, die ich selbst wahrgenommen habe. Aber es gibt Schriften in diesen Mauern, die an der Existenz der Tränen keinen vernünftigen Zweifel lassen. Ich halte es auch für denkbar, dass einer der Goldschmiede aus der Zeit des Osiris Thutmosis noch lebt. Er könnte vielleicht diese eine Träne mit eigenen Augen gesehen haben.»
Sethi verneigte sich knapp, und so unauffällig, wie er aus dem Schatten der Säule herausgetreten war, zog er sich mit einem unbemerkt gesetzten Schritt wieder dorthin zurück, als wollte er das Feld der weiteren Auseinandersetzung nur Tutanchamun und mir überlassen.
«Hast du das gewusst, als du mir deine Geschichte erzählt hast?», wollte Pharao von mir wissen.
«Was habe ich gewusst? Jetzt, da ich Sethi zugehört habe, bin ich mir sicher, dass es kein Märchen war, was ich dir so oft erzählt habe. Was weiß man wirklich? Ich kann es dir nicht erklären. Es gibt so viele Geschichten, von welchen niemand so genau weiß, was an ihnen Wahrheit ist und was nur Erfindung. Hat es Chunanup, den Redekundigen aus der Salzoase, in der Geschichte aus der Zeit des Königs Neb-kau-Re gegeben, oder ist er nur eine Erfindung? Hat es den Gilgamesch und seinen Gefährten Enkidu gegeben? Das wissen selbst die Babylonier nicht so recht, und doch glauben sie daran.»
Nassib war mit meiner Antwort gar nicht zufrieden und wandte sich wieder dem Priester zu.
«Nehmen wir an, Sethi, es gäbe irgendwo die Tränen des Re. Vielleicht vier oder fünf, vielleicht nur eine einzige. Wie hoch wäre ihr Wert einzuschätzen?»
Der Erste Sehende kehrte zurück ins Licht und erhob die Hände gen Himmel, als wollte er bei Re selbst eine Antwort erflehen, die seinen Herrscher zufrieden stimmte.
«Alles Gold der Erde? Zehntausend Menschenleben? Ein einziges Menschenleben, wenn es jenes ist, an dem Euch am meisten liegt? Osiris Thutmosis soll sie zu seinem Grabschatz genommen haben. Ist sie es wert, sein Grab aufzubrechen und seine Totenruhe zu stören, um so ewigen Fluch auf sich zu laden? Die Antwort könnt nur Ihr Euch selbst geben, Majestät. Das übersteigt den Verstand eines einfachen Priesters.»
Er verneigte sich und verschwand erneut in sein Schattenversteck. Tutanchamun sah mich eine Weile nachdenklich an. Dann wurde sein Gesicht fröhlich, als hätte er sich innerlich von einer unangenehmen Last befreit, und sagte zu mir: «Um es ganz offen auszusprechen: Ich halte nicht viel von alledem. Du hast mir die Geschichte immer als ein Märchen erzählt, und das soll es für mich auch bleiben.»
«Du solltest die Geschichte um die Tränen des Re nicht so leichtfertig
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