Im Land des Falkengottes. Tutanchamun
welcher Geschwindigkeit sie kamen.
Amenemhet hatte auf der Übungsbahn alle nur denkbaren Spielarten ersonnen, um seinen Schüler mit Zielen zu überraschen, die aus allen möglichen Richtungen kamen. Im Wissen um die Möglichkeiten war Amenemhet seinem Schüler vielleicht noch voraus; in der Handhabung selbst war Tutanchamun längst Meister geworden.
«Du stellst dich dort auf den kleinen Turm», sagte Nassib zu mir, nachdem wir das Übungsgelände erreicht hatten. Er setzte mich in der Mitte des weiten Geländes ab, und wie er gesagthatte, bestieg ich dort einen kleinen überdachten Holzturm, der mir eine herrliche Übersicht bescherte. Dann fuhr er mit seinem Streitwagen zu Amenemhet, der etwas abseits stand, und unterhielt sich mit ihm. Bald darauf gab der Offizier das Zeichen, dass es losgehen konnte. Tutanchamun hatte die Zügel rechts und links an seinem Gürtel befestigt. Ihre Länge war so knapp bemessen, dass er das Gespann allein mit den Bewegungen seiner Hüfte lenken konnte.
«Brrrr», hörte ich ihn knurren und sah, wie er einen Schritt nach hinten machte, um die Pferde, die schon aufgeregt losjagen wollten, noch einmal zurückzuhalten.
«Ich bin noch nicht so weit», redete er auf seine weißen Hengste ein. «Einen kleinen Augenblick müsst ihr euch noch gedulden, ehe es losgeht!»
Seine Beine suchten den richtigen Tritt im Wagen, seine Rechte ordnete noch einmal die Pfeile, die in dem am Wagen befestigten Köcher steckten, und bevor er sich mit der Linken, in der er bereits den Bogen hielt, einen Pfeil in den Mund steckte, rief er laut zu mir herüber: «Wie viele Fehlschüsse in zwei Runden gestehst du mir zu, Eje?»
«Fünf!», rief ich laut zurück und hielt ihm die gespreizte Hand entgegen.
«Ich halte zwei dagegen! Das macht einen Unterschied von drei. Drei Pferde für mich, wenn es nicht mehr als zwei Fehlschüsse sind. Drei Pferde für dich, wenn ich mehr als zweimal vorbeischieße. Ich will aber keinen lahmen Esel wie beim letzten Mal!»
«Heia!», rief er laut und steckte sich den Pfeil in den Mund, während die Hengste losstürmten. Dann nahm er einen zweiten Pfeil, setzte ihn an die Sehne und hob den Bogen. Sein Weg führte erst an dem Erdwall entlang. In kurzen Abständen rollten zwei Räder herab, gefolgt von einer kleinen Holzscheibe. Drei Treffer. Dann rutschte aus entgegengesetzter Richtung ein Sandsack in die Tiefe, und noch ehe er unten ankam, trafen ihn gleich zwei Pfeile. Fünf Treffer. Wenig später fuhr er auf eineArt Galgen zu, und noch bevor ich dessen Bedeutung erriet, sah ich, wie von rechts und von links zwei Säcke, die an Stricken befestigt waren, in Nassibs Weg hineinbaumelten. Wieder kein Fehlschuss. Kurz darauf rollte hinter einem Strauch ein Holzfass hervor, und ehe es Pharaos Weg gekreuzt hatte, steckte auch schon ein Pfeil in seinem Boden. Dann flogen aus einem für mich unsichtbaren Korb drei Wildenten nach oben. Die erste fiel, die zweite auch.
«Fehler!», rief ich laut, als ich mir sicher war, dass sich die dritte außer Reichweite seiner Pfeile befand. Jetzt durchfuhr Nassib eine Reihe von acht rechts und links versetzt aufgestellten Holzpfählen, und meine Hoffnung, dass er sich hier noch einmal einen Fehlschuss leisten würde, war schnell dahin. Zuletzt fuhr er noch einmal an dem Erdwall entlang, von wo ein Wagenrad auf sein Gespann zurollte. Entgegen jeder Vernunft wartete er nicht ab, bis das Rad seinen Weg gekreuzt hatte, damit er das Ziel überholen und dann schießen konnte, sondern er ließ den Pfeil lange vorher ins Nichts hineinfliegen, damit er kurz darauf sein Ziel durchbohrte.
«Ja!», hörte ich ihn kraftvoll und stolz rufen, denn er wusste sehr wohl, dass dies die schwierigste Prüfung gewesen war.
Danach setzte er zur zweiten Runde an. Der Fehlschuss auf eine der Wildenten hatte ihn offenbar noch mehr angespornt, denn wenig später stand fest, dass ich bei nur einem Fehlschuss anderntags drei Pferde in den Stallungen des Guten Gottes abzuliefern hatte.
Tutanchamun war längst aus dem Kindesalter heraus. Seit dem Beginn seiner Mannwerdung musste oftmals ein flüchtiger Händedruck oder ein Wink mit der Hand genügen. Er war jetzt ein Jüngling, dessen erste Barthaare sprossen und dessen Flaum über der Oberlippe begann, sich dunkel zu färben. Die Zeiten, da er versucht hatte, mich in so vielen Dingen nachzuahmen, waren vorbei. Gewiss, manches Abenteuer, das ich mit meinem Freund Amenophis im Palast von Men-nefer erlebt hatte,
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