Im Land des Falkengottes. Tutanchamun
zu dürfen, überhörte er geflissentlich oder lehnte sie ganz offen ab.
«Ein Mann wie du kann gar nicht zurückgezogen leben», glaubte er zu wissen. «Wenn Eje nicht gebraucht wird, verwelkt er wie eine Blume, die man nicht gießt. Es würde dich krank machen, nicht mehr jeden Tag im Palast zu erscheinen und Entscheidungen zu beeinflussen.»
Es war lieb von ihm gemeint. Und dennoch spürte ich immer häufiger, dass ich ihm auch zur Last wurde. Die meisten der jungen Männer, mit welchen er sich mehr und mehr umgab, wussten mit einem Greis wie mir nichts anzufangen. Menschen in ihrem Alter sind forsch. Sie prahlen mit ihren Kräften und glauben, dass sie das, was sie heute einreißen, morgen schon wieder aufbauen können. Bedächtigkeit und Vorsicht sind ihnen ein Gräuel. So schwieg ich meistens, wenn ich an ihren Versammlungen teilnahm, und wenn ich Tutanchamun etwas zu sagen hatte, tat ich es meist unter vier Augen.
«Ich habe in On zu tun», entschuldigte ich mich bei Pharao, wenn ich keine Lust verspürte, ihren hitzigen Reden zuzuhören.
Tutanchamun lachte laut auf und sagte: «Du glaubst wohl noch immer daran, dass du eines Tages die Tränen des Re findest. O Eje! Alte Männer sind manchmal wirklich seltsam. Aber geh nur und werde glücklich bei deiner Suche!»
Ich war weiter gekommen, als ich selbst vor einem halben Jahr noch geglaubt hätte. Niemand wusste davon. Nur der Erste Sehende des Re, Sethi, ahnte, dass ich nahe am Ziel war.
«Besitzt Ihr eine Karte des nördlichen Sternenhimmels?», fragte ich ihn bei meinem ersten Besuch nach so langer Zeit.
«Ich bitte Euch, Gottesvater Eje! Wir besitzen mehr als hundert unterschiedliche Arten von Sternenkarten. Ihr könnt sie alle einsehen.»
«Mir geht es um eine ganz bestimmte, die mir der Kommandant unseres Schiffs gezeigt hatte: Über dem Kopf eines liegenden Löwen thronte ein Falke. Rechts daneben stand ein Stier mit mächtigen Hörnern und dahinter ein Viehtreiber, der die Leine hielt. Unter ihnen stand Horus in Menschengestalt mit einem Bogen in seinen Händen. Und noch weiter rechts bestieg ein Krokodil die Göttin Thoeris. Überall in ihren Körpern sind mit kleinen roten Punkten die Sterne des Nordhimmels eingezeichnet. Diese Karte brauche ich, Sethi!»
Kaum eine Stunde später lag sie vor mir auf dem Tisch. Es war ein wunderbarer Papyrus: Der Hintergrund, der den Nachthimmel darstellte, war dunkelblau, und all die Figuren auf ihm waren weiß und mit hellroter Farbe umrandet. Nur die Augen einiger Figuren waren mit schwarzer Farbe gezeichnet.
«Und jetzt?», fragte mich Sethi herausfordernd.
«Jetzt muss ich nur noch herausfinden, welche Orte in Ägypten der Text, den ich vor einem Jahr hier gelesen habe, meint.»
«Ich lasse ihn kommen», sagte der Priester freundlich.
«Das ist nicht nötig», antwortete ich, und es war mir einegroße Genugtuung, das überraschte Gesicht Sethis zu sehen, als ich zu sprechen begann:
«Dort, wo der Stier dich bedroht, erfasse sein Horn! Wo das Krokodil geil das Flusspferd besteigt, berühre den Arm der Thoeris und lasse ihn nicht mehr los.»
Ich sagte ihm den ganzen Text bis zum Schluss auf. Dann sah mich der Priester an und stellte mir eine Frage, die mir nur wenige ungestraft stellen durften: «Könnte es sein, dass Ihr ein wenig eitel seid, Gottesvater Eje?»
«Gewiss bin ich eitel, Sethi. Aber so alt, wie ich auch bin: Ich habe ein Ziel vor Augen. Und ich war noch nie so nah an meinem Ziel. Es ist nur Ehrgeiz, der mich gepackt hat!»
Ich bat ihn um eine Landkarte Ägyptens und blieb mit den beiden Karten stundenlang allein in der Schatzkammer von On zurück.
«Im grünen Land steht der Stier», flüsterte ich und war mir sicher, dass damit nur das fruchtbare Grünland der Flussmündung gemeint sein konnte.
«Das Krokodil begattet Thoeris an der Pforte zur Ewigkeit.» Das Krokodil. Die Oase Fajum. Aber welche Pforte der Ewigkeit mochte gemeint sein? Es ergab wieder keinen Sinn.
Tag für Tag verbrachte ich in On, ließ mir ein ums andere Mal verschiedene Landkarten von Ägypten bringen und kam doch zu keinem Ergebnis.
«Wer sagt Euch denn», bemerkte Sethi bei einem seiner kurzen Besuche in meiner Kammer, «dass Ihr die Tränen des Re in Ägypten findet? Könnte es sein, dass Ihr Euch zu sehr an diese Vorstellung klammert?»
Er hatte Recht. Die Tränen konnten irgendwo auf dieser Welt niedergefallen sein. Warum ausgerechnet in Ägypten?
Wenig später brachte mir ein junger Priester einen
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