Im Land des Regengottes
Hamburg aufgegeben und mich von allen verabschiedet. Ich muss in Südwest eine Anstellung finden.«
»Aber Sie kennen hier doch keinen Menschen!«
»Verstehen Sie doch: Ich kann nicht mehr zurück!« Diese letzten fünf Worte stieß Fräulein Hülshoff mit einer solchen Leidenschaft hervor, dass ich erschrocken ein Stück zurückfuhr.
»Entschuldigung«, murmelte sie sofort betreten. Sie erhob sich, klappte ihren Sonnenschirm auf und wollte an mir vorbei.
»Warten Sie.« Ich hielt sie am Ärmel fest und erwartete, dass sie sich empört losreißen würde, aber sie blieb tatsächlich stehen. »Vielleicht kennt Herr Freudenreich ja eine andere Familie, die eine Gouvernante oder eine Hausdame sucht. Das Dumme ist nur, dass er uns nicht persönlich abholen kommt, sondern nur einen Wagen schickt.«
Fräulein Hülshoff zuckte mit den Schultern. »Sie sind ein guter Mensch«, flüsterte sie. »Aber Sie können mir auch nicht helfen. Ich werde …« Sie verstummte und starrte nach oben in den Wipfel der Palme.
»Sie kommen einfach mit uns nach Bethanien«, rief ich. »Es ist eine Missionsstation, da gibt es bestimmt Arbeit in Hülle und Fülle. Und falls nicht, findet sich eine Lösung. Das ist das Beste.«
Fräulein Hülshoff sah mich zweifelnd an. »Das wird Ihrem Stiefvater ganz bestimmt nicht gefallen, wenn Sie ihm gleich eine Fremde mit ins Haus bringen. Und was wird Ihre Mutter überhaupt dazu sagen?«
»Bist du von Sinnen?«, rief meine Mutter. »Hast du vollkommen den Verstand verloren? Ausgerechnet dieses Bücher lesende, eingebildete Frauenzimmer willst du mit nach Bethanien schleppen? Was soll denn Herr Freudenreich von uns denken, wenn wir gleich mit so einer Person bei ihm aufkreuzen?«
»Hast du eine bessere Lösung?«, fragte ich aufgebracht. »Fräulein Hülshoff ist verzweifelt. Versetz dich doch bloß einmal in ihre Lage. Was würdest du denn an ihrer Stelle tun?«
Meine Mutter zuckte mit den Schultern und schüttelte sofort danach den Kopf.
»Es ist unsere Pflicht als Christenmenschen, ihr zu helfen«, erklärte ich. »Stell dir vor, sie tut sich etwas an.«
»Jette«, sagte meine Mutter, »wir können sie nicht mitnehmen. Schlag dir das aus dem Kopf.«
»Also gut. Dann sag ihr das, wenn wir sie gleich im Speisesaal sehen.«
»Ich? Was habe ich mit der Angelegenheit zu tun? Ich kenne die Person doch gar nicht.«
»Der Samariter in der Bibel kannte den armen verletzten Mann auf der Straße auch nicht und hat sich dennoch um ihn gekümmert.«
Dieses Argument war natürlich unschlagbar. Gegen die Bibel kam meine Mutter nicht an. Ich beschloss, die Gunst der Lage zu nutzen und gleich noch einen Hieb nachzusetzen. »Wenn Herr Freudenreich dir einen Brief geschickt hätte, in dem er dir mitteilt, dass er dich nun doch nicht heiraten möchte, was würdest du machen?«, fragte ich.
»Als ob er so etwas tun würde!«
»Du kennst ihn doch gar nicht. Das, was Fräulein Hülshoff passiert ist, hätte auch uns geschehen können.«
Meine Mutter seufzte. »Ich werde darüber nachdenken, Jette.« Unten im Empfangsraum läutete die Glocke. Meine Mutter erhob sich sichtlich erleichtert. »Lass uns jetzt zu Abend essen.«
»Wenn Fräulein Hülshoff nicht mitkommt, bleibe ich ebenfalls hier.« Pardauz, das war der letzte Hieb. Meine Mutter verzog das Gesicht.
»Ich verspreche dir, dass ich mir die ganze Angelegenheit durch den Kopf gehen lasse«, versicherte sie. »Lass uns nun essen gehen.«
Ich zögerte, dann nickte ich. Mehr konnte ich im Moment für Fräulein Hülshoff nicht erreichen. Außerdem hatte ich wirklich Hunger.
Vor dem Schlafengehen fiel mir Evas Geschenk wieder ein. Mach es erst in Bethanien auf, hatte sie gesagt. Aber sie hatte ja nicht ahnen können, dass wir in Swakopmund festsitzen würden. Bestimmt hätte sie nichts dagegen, wenn ich das Päckchen jetzt schon öffnete.
Ich riss das Papier auf und enthüllte eine kleine Messingskulptur. Eine schmale, dünne Frau mit erhobenen Armen, aus deren Schulterblättern Flügel wuchsen. Ein Schutzengel.
Denn er hat seinen Engel befohlen über dir, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest, hatte Eva auf einen kleinen Zettel geschrieben. Deine Dich schmerzlich vermissende Freundin Eva.
Dieselben Worte, über die auch Pastor Cordes gepredigt hatte. Gestern Abend hatten sie eine solche Beklemmung in mir ausgelöst. Jetzt erschienen sie mir tröstlich und verheißungsvoll. Nachdenklich strich ich
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