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Im Land des Regengottes

Im Land des Regengottes

Titel: Im Land des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Mayer
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mit dem Daumen über die Skulptur. Oben am Kopf des Engels war eine kleine Öse angebracht. Ich würde einen Faden hindurchziehen und den Engel immer um meinen Hals tragen .
    »Was hast du denn da?«, fragte meine Mutter, als sie den Raum betrat.
    Ich schloss meine Finger um den Schutzengel. »Nichts.« Der Schutzengel war mein Geheimnis. Er würde mich nach Stellenbosch aufs Lehrerinnenseminar bringen. Und später in mein kleines Haus am Meer, zusammen mit Bertram. Ans Ziel meiner Träume.
     
    Swakopmund, den 20. Februar 1900
     
    Lieber Bertram,
     
    nun sind wir nach unserer langen Seereise endlich in Swakopmund angekommen. Noch warten wir auf den Wagen, der uns nach Bethanien bringen soll, wo ich dann meinen Stiefvater kennenlernen werde. In der Zwischenzeit hatte ich Gelegenheit, mich ein wenig in der Stadt umzusehen.
    Du musst Dir Swakopmund nicht als große Hafenstadt vorstellen, wie Hamburg oder Bremen. Die Stadt ist kleiner als Elberfeld, es gibt hier nicht einmal einen richtigen Bahnhof. Von einem Hafen ganz zu schweigen. Die Schiffe ankern gut einen Kilometer vor der Küste, weil sie die gefährliche Brandung nicht überwinden können, die Passagiere werden dann in kleinen Booten an Land gebracht.
    Nicht nur die Eingeborenen, sondern auch die deutschen Auswanderer leben in sehr einfachen Verhältnissen. Die Häuser sind aus Holz und unter den Blechdächern an allen Seiten mit Luftlöchern versehen, damit es in der Sommerhitze nicht gar zu unerträglich wird. Gärten habe ich hier noch gar nicht gesehen, es gibt auch kaum Bäume und Büsche, nur Palmen und Kakteen.
    Übrigens hab ich Dir das Neueste noch nicht erzählt. Fräulein Hülshoff, die lesebegeisterte Dame, die ich auf dem Schiff kennengelernt habe und die zufälligerweise auch in unserer Pension untergekommen ist, wird uns nach Bethanien begleiten. Sie sollte hier bei einer Familie als Gouvernante arbeiten, aber nun hat sich die Sache leider zerschlagen und Fräulein Hülshoff steht ohne einen Pfennig Geld da und hat auch keine Aussichten auf eine andere Anstellung. Die Ärmste! Ich bin froh, dass meine Mutter eingewilligt hat, sie mitzunehmen. Für meinen Stiefvater in spe wird es doch ein Leichtes sein, ihr weiterzuhelfen. Als Missionar verfügt er sicher über weitreichende Verbindungen in der Gegend und weiß, wer eine Erzieherin brauchen kann.
    Während ich hier an Dich schreibe, gleitet mein Blick durch das Fenster in den Hof. Dort bietet sich mir ein bizarres Bild: Soeben ist ein riesiges Ochsengespann durchs Tor gefahren. Neben dem Leitochsen läuft ein ganz absonderlicher Bursche. Der Kerl trägt eine weiße Damenbluse, die ihm an den Ärmeln nur bis über die Ellenbogen reicht, und eine Reiterhose, aus der statt Stiefel die nackten Beine ragen! Auf dem Kopf, als Krönung des ganzen Aufzugs, ein Jägerhütchen aus grünem Filz. Ach, Bertram, mitunter hat man das Gefühl, dass man sich hier in einem Tollhaus befindet oder zumindest im rheinischen Karneval.
    Nun schließe ich mit dem Versprechen, Dir sehr bald wieder zu schreiben. Die Briefe, die ich auf dem Schiff verfasst habe, habe ich gestern aufgegeben. Vermutlich werden sie Dich erst in einigen Wochen erreichen. Ob mich wohl auch ein paar Zeilen von Dir erwarten, wenn ich in Bethanien ankomme? Das wäre ganz wunderbar.
     
    Es grüßt Dich in großer Verbundenheit
    Deine Freundin und Verlobte
    Henrietta

 
8
     
    »Er ist da!«
    Ich konnte den Brief an Bertram gerade noch in meiner Bibel verschwinden lassen, als meine Mutter ins Zimmer eilte.
    »Wer?« Zu dumm aber auch! Ich hatte keine Zeit mehr gehabt, die Tinte zu trocknen, wahrscheinlich war die Schrift jetzt ganz verwischt. Aber ich wollte auf keinen Fall, dass meine Mutter bemerkte, dass ich an Bertram schrieb.
    »Wer denn wohl? Der Wagen aus Bethanien! Wir werden abgeholt.«
    »Was? Jetzt schon?« Ich sprang auf. »Aber ich habe Frau Smitt gestern meinen Unterrock und die Bluse gegeben, dass sie mir die Sachen wäscht. Ich muss gleich …«
    »Schon gut. Wir brechen nicht vor morgen früh auf. Die Ochsen müssen erst getränkt und gefüttert werden.«
    Das Gespann, das ich durchs Fenster gesehen hatte. Der Hanswurst mit der Damenbluse kam also aus Bethanien? Ich lief zum Fenster und blickte hinaus. Der Bursche hatte die ersten beiden Ochsen inzwischen ausgespannt. Als habe er meinen Blick gespürt, drehte er sich plötzlich um und schaute hoch zu mir. Ich duckte mich unwillkürlich, das war dumm, dadurch wurde er doch erst

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