Im Land des Roten Ahorns
daran denken, was er getan hätte, wenn ...«
Das Grauen schnürte Jaqueline die Kehle zu. Noch immer hatte sie Fahrkrogs widerlichen Mundgeruch in der Nase.
Der Diener senkte bescheiden den Blick. »Wäre ich schneller wiedergekommen, hätte er Sie vielleicht gar nicht erst belästigen können.«
»Sie trifft keine Schuld, Christoph«, sagte sie lächelnd. »Dieser Fahrkrog hat keine Ehre im Leib. Ich danke Ihnen, dass Sie mich beschützt haben.«
Sie wischte sich über die glühenden Wangen. Der Abscheu rumorte noch immer in ihr. Doch der würde im Gegensatz zu den Schulden vergehen.
»Ich werde Herrn Petersen bitten, ein hervorragendes Zeugnis für Sie auszustellen, damit Sie bald eine neue Anstellung finden.«
»Sie wollen mich entlassen?«, fragte Christoph entgeistert.
»Ich habe keine andere Wahl«, flüsterte Jaqueline schweren Herzens, denn sie kannte Christoph schon von Kindesbeinen an.
In den vergangenen Monaten war er der Einzige gewesen, der trotz des schmalen Lohns, den sie sich eigentlich gar nicht leisten konnten, geblieben war.
»Schon bald wird es hier nichts mehr geben, um das Sie sich kümmern können«, setzte sie hinzu. »Es ist nicht nur Fahrkrog, dem mein Vater etwas schuldet. Er hatte zwei Dutzend Gläubiger. Einer nach dem anderen wird kommen und sich holen, was er will. Wahrscheinlich werde ich auch das Haus verlieren.«
»Das weiß ich, Fräulein Halstenbek. Dennoch würde ich Sie bitten, mich bis dahin noch in Ihrem Dienst zu behalten. Ich bin sicher, dass Ihr Vater wollen würde, dass sich jemand um Sie kümmert. Ich habe ein wenig gespart und brauche für eine Weile keinen Lohn.«
Erneut schossen Jaqueline die Tränen in die Augen. Diesmal waren es aber Tränen der Rührung. »Sie sind so eine treue Seele, Christoph«, schluchzte sie. »Ich werde Ihnen das nie vergelten können.«
»Das müssen Sie auch nicht, Fräulein Halstenbek. Soll ich Ihnen einen Tee auf den Schreck bringen?«
Jaqueline hatte eigentlich nicht die Ruhe, etwas zu sich zu nehmen, doch um Christoph nicht vor den Kopf zu stoßen, erklärte sie: »Ja, das wäre sehr freundlich von Ihnen.«
Der Diener verbeugte sich leicht und verschwand in der Küche.
Jaqueline ließ sich auf der Chaiselongue nieder. Einen Moment lang starrte sie verloren auf ihre Hände, bis sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
2
Am Nachmittag barst die Hamburger Innenstadt vor Menschen. An fein gekleideten Herrschaften, die sich einen Spaziergang an der Alster gönnten, huschten Dienstmädchen und Knechte vorbei. Ein paar Matrosen auf Landgang pfiffen den Mädchen hinterher, während sich die Rufe der Zeitungsjungen mit dem Knarren der Droschken mischten, die an den Spaziergängern vorbeifuhren. Vom Hafen her erklang das Tuten von Schiffssirenen, und weithin konnte man die Lastkräne ausmachen, mit deren Hilfe die Schiffe beladen wurden.
Jaqueline hätte eigentlich zu Hause bleiben sollen, denn noch immer hatte sie sich nicht ganz von Fahrkrogs Angriff erholt. Aber die Rastlosigkeit, die sie erfasst hatte, trieb sie aus dem Haus. Alles war besser, als ständig an die Vorfälle der letzten Stunden erinnert zu werden. Sie brauchte jemanden zum Reden und wusste, dass Petersen ihr zuhören würde. Außerdem wollte sie unbedingt den Brief an Alan Warwick aufgeben.
Während sie sich ihren Weg bahnte, wurde sie immer wieder angerempelt. Eine Horde Jungen raste johlend an ihr vorbei und zwang sie dazu, zur Seite zu springen, wobei sie selbst jemanden anstieß.
»He, pass doch auf!«, fuhr der Mann im teuren Gehrock sie an und ging kopfschüttelnd weiter.
Jaqueline seufzte. Sie bedauerte zutiefst, dass sie ihre Kutsche hatten verkaufen müssen. Nicht, dass es ihr etwas ausmachte, zu Fuß zu gehen. Aber innerhalb dieser Menschenmenge hatte sie das Gefühl, dass sich ihre Brust zusammenschnürte.
Endlich tauchte die Anwaltskanzlei vor ihr auf. Sie hob den Rock ihres schwarzen Taftkleides ein wenig an, stieg die Treppe hinauf und betätigte den Türklopfer. Dann wandte sie sich um und warf einen Blick auf die nahe Alster.
Ein paar Fischerboote zogen, von Möwen umkreist, vorbei, während in der Ferne das Läuten einer Schiffsglocke ertönte. Wenig später konnte Jaqueline das Schiff sehen. Es war eine viermastige Bark, ein Teeklipper, wie sie täglich im Hamburger Hafen ein- und ausliefen.
Eine unbestimmte Sehnsucht machte sich plötzlich in Jaqueline breit. Ist es Fernweh?, fragte sie sich. Doch bevor sie die Antwort finden
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