Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
hatte sie beruhigt: Die Kleine lag entspannt auf dem Rücken, den Mund halb geöffnet, und sah aus wie ein perfekter Unschuldsengel. Anne hatte ihr leicht über die Wange gestreichelt, hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt und dann das Haus verlassen.
Fast von selbst fiel ihr Blick auf das halb fertiggestellte Haus am Waldrand, neben dem ein kleiner Hügel anzeigte, wo das Grab von David lag. Sie lenkte ihre Schritte dorthin und sank neben dem Grab auf ein Knie. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, sagte sie schließlich leise – und war sich wieder nicht sicher, ob sie zu irgendeinem höheren Wesen sprach oder ob sie mit ihrem verstorbenen Mann redete. »Aber durch dich bin ich tatsächlich das erste Mal in meinem Leben wirklich glücklich. Ich freue mich über jeden Augenblick, den ich an Gregorys Seite verbringen kann. Er kümmert sich um mich und Charlotte, als sei das schon immer seine Aufgabe gewesen … Hast du gesehen, dass er ihr gestern eine Schaukel an dem alten Baum hergerichtet hat? Die Kleine hat den ganzen Nachmittag dort verbracht. Und er vergrößert die Lichtung, damit wir hier mehr Platz für die Schafe haben. Die ersten Lämmer sind schon geboren, genauso, wie wir es geplant haben. Nicht mehr lange, und wir haben eine große und starke Herde. Alles wächst und gedeiht – und ich hoffe, du kannst es sehen. Egal, wo du jetzt wirklich bist …« Sie strich mit der flachen Hand über das Grab und stand langsam auf. Einen Moment lang sah sie nachdenklich vor sich hin. »Ich bin mir noch nicht sicher … aber ich glaube, wir werden im Herbst ein weiteres Kind bekommen. Ich habe es Gregory noch nicht erzählt, aber ich bin überzeugt, er wird sich über die Maßen freuen. Und ich auch. Alles ist so anders als bei Charlotte. Da hatte ich Angst und fühlte mich so schrecklich alleine – ich hatte ja keine Ahnung, ob du jemals zurückkommen würdest. Aber jetzt ist alles gut. Ich habe Gregory, ich weiß, dass ich in diese Bucht gehöre. Wenn ich noch einen Wunsch für mich und meine Kinder übrig hätte, dann wäre es nur dieser eine: dass wir hier in dieser Bucht im Frieden leben können. Ich habe in diesem Leben mehr als genug erlebt …«
Sie lächelte vor sich hin und wandte sich dem Meer zu. Es schien an diesem Morgen hellgrün zu leuchten und sah aus wie flüssiges Metall. Der kleine Schoner wiegte sich mitten in der Bucht an seiner Ankerkette.
Ohne lange nachzudenken, lief Anne den kurzen Weg hinunter zum Strand, zog sich ihr Nachthemd über den Kopf und lief in das kristallklare Wasser. Die Kälte nahm ihr für einen Augenblick den Atem – dann spürte sie, wie ihre Haut anfing zu prickeln und sie sich so lebendig und rein wie selten in ihrem Leben fühlte.
Als sie wieder aus dem Wasser stieg, fühlte sie sich fast wie neugeboren. Was hatte Gregory immer wieder in diesem endlosen Winter gesagt, während sie sich in den Armen hielten und dem Heulen des Windes um die kleine Hütte lauschten? »Sei unbesorgt – es wird der Tag kommen, an dem wir nur noch an die Zukunft denken, und die gesamte Vergangenheit liegt hinter uns und fühlt sich nur noch wie ein düsterer Traum an.«
Er hatte recht gehabt. Dieser Tag war heute. Es wurde höchste Zeit, dass sie zu ihm ging und ihm erklärte, dass heute der erste Tag ihres neuen Lebens war. Von jetzt an zählte nur noch die Zukunft …
Mit einem erfüllten Lächeln im Gesicht ging sie den Weg zurück zu ihrer Lichtung. Sie war in Neuseeland, in ihrer eigenen »Bucht der vielen Strände«.
Und es war gut so.
EPILOG
TASMANISCHE SEE, 1838
Das große Schiff kämpfte sich schwer durch die gewaltige Dünung der See. Die Segel über den Köpfen der Reisenden waren straff gespannt durch den stürmischen Wind – aber keiner der zwanzig Männer und Frauen schien den Wunsch zu verspüren, zurück zum Unterdeck zu gehen, um sich vor den Böen zu schützen. Etwas abseits standen zwei Frauen, die sich fest in ihre Schals hüllten und den Blick auf den Horizont gerichtet hatten.
»Es kann nicht mehr lange dauern«, vermutete die Ältere der beiden, die bestimmt schon an die fünfzig war und der Sorgen und üble Zeiten tiefe Falten ins freundliche Gesicht gegraben hatten. »Der Kapitän meinte heute früh, dass wir schon bald die Küste sehen könnten. Stellt Euch das vor – nicht mehr lange, und wir sind endlich angekommen … zumindest fast.«
»Wo wollt Ihr denn eigentlich genau hin?« Die jüngere Frau lächelte verlegen. »Ich
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