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Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Titel: Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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an, der dem Kind tröstend über den Rücken strich. Mit dem gleichen Ergebnis. Sie schrie noch lauter. Anne drückte das schreiende Mädchen fest an sich und wiegte es hin und her. »Papa kommt nicht wieder«, murmelte sie. »Papa ist jetzt weg. Weg. Weg.« Sie merkte nicht, dass sie bei ihren Worten selbst ohne Unterlass weinte.
    Gregory saß hilflos daneben. Er fühlte sich wie ein Eindringling in eine Trauer, die er nicht teilen konnte, überlegte sogar, ob er Mutter und Tochter in ihrem Schmerz allein lassen sollte. Doch dann dachte er daran, wie er sich vor vielen Jahren von Anne hatte wegschicken lassen, bloß weil sie ihm nicht zutraute, mit ihr ein neues, anderes Leben zu führen. Und er war sich sicher: Noch einmal würde er dieser Frau nicht erlauben, sich einfach so aus seinem Leben zu schleichen und ihn wegzustoßen.
    Er beugte sich vor und nahm Mutter und Tochter gleichermaßen in seine Arme. »Ich bin jetzt für euch da. Ihr seid nicht alleine, habt keine Angst – ich kümmere mich um euch, es wird euch nichts Schlimmes passieren.«
    Er wiederholte die Worte immer wieder, wie ein Gebet, das eine andere Wirklichkeit beschwor. Sie waren alle drei völlig durchnässt, aber Gregory hörte nicht auf, bis er spürte, dass sich die Muskeln in Annes Rücken etwas entspannten und sie allmählich tiefer atmete. Auch Charlotte heulte nicht mehr so heftig, und ihr Widerstand gegen die Umarmung der Überlebenden ließ langsam nach.
    Der Regen zog ab, und es fing an zu dämmern – Gregory erhob sich und nahm seine neue kleine Familie mit sich. »Kommt, wir gehen ins Haus. Hier draußen frieren wir nur schrecklich, das hätte David ganz bestimmt nicht gewollt. Ich mache uns etwas Heißes zu trinken. Und für David hier draußen bringe ich eine warme Decke.«
    Sie machten sich gemeinsam auf den Weg zurück ins Haus. Eine verzweifelte kleine Gruppe, die sich gegenseitig Halt gab und so aussah, als würde jeder Einzelne allein endgültig stürzen und aufgeben. Aber zu dritt schafften sie den Weg ins Trockene.
    Sehr viel später, als Charlotte sich endlich in den Schlaf gewimmert hatte, saßen Anne und Gregory schweigend an dem kleinen Feuer. Der Regen prasselte erneut auf die Lichtung, den Wald und das Meer – der Wind hatte allerdings nachgelassen, der Sturm war dem kalten Landregen gewichen. Sie wechselten kein Wort, ihre Gedanken waren bei dem Mann, der draußen unter einer Decke auf dem nassen Waldboden ruhte. Anne lauschte immer wieder in die Dunkelheit, als ob sie ständig hoffte, doch noch Davids vertraute Schritte auf der Veranda zu hören. Aber es blieb still. Gregory legte hin und wieder ein trockenes Stück Holz in die Glut, damit das Feuer nicht erlosch. Irgendwann stand er auf, machte in bedächtigen, langsamen Bewegungen einen frischen Tee und drückte Anne einen dampfenden Becher in die Hand. Sie lächelte ihn dankbar an und starrte dann wieder in die Flammen.
    »Er hat das für uns getan«, sagte sie schließlich. »Ihm war mein Glück so wichtig, dass er mir nicht im Weg stehen wollte. Und jetzt weiß ich nicht, ob ich mit diesem Geschenk leben kann.«
    »Wenn du ihn ehren willst, dann solltest du es annehmen«, erklärte Gregory. »Ich wollte auch nie, dass ein Mensch für mich stirbt. Aber wäre es nicht falsch, wenn ich jetzt dieses Geschenk nicht empfangen würde? Ganz gleich, was noch passiert – an seinem Tod können wir nichts mehr ändern.«
    »Aber …« Sie zögerte. »Wie kann aus dem Tod eines Menschen etwas Gutes entstehen? Wie kann aus diesem Verlust ein neuer Anfang entspringen?« Sie schüttelte den Kopf und trank in kleinen, vorsichtigen Schlucken aus ihrem Becher.
    Gregory musterte sie von der Seite. Die schmale, leicht gebogene Nase und die hohen Wangenknochen, die ihrem Gesicht den rätselhaften Ausdruck gaben, die langen Wimpern, die in diesem Licht Schatten warfen und ihre Augen nicht mehr erkennen ließen. Sie erschien ihm in ihrer Trauer und ihrer Verwirrung schöner als jemals zuvor.
    »Wir müssen ihn morgen begraben«, erklärte sie dann. »Er sollte nicht so lange im Regen liegen. Auch wenn es lächerlich ist, aber ich denke beständig daran, dass er da draußen friert.«
    Behutsam legte er seinen Arm um ihre Schultern. »Das machen wir morgen Vormittag. Wir bereiten ihm ein tiefes, gutes Grab, hier auf diesem Stück Land, das er so gerne mochte. Und dann sehen wir in die Zukunft. Bis dahin ist die Zeit der Trauer, die Zeit, in der wir um einen guten Menschen weinen

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