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Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Titel: Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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in die Heimat verloren. Dieser Alte war schon seit Jahren hier in Kororareka. Wenn ihm nicht ab und zu eine mitleidige Seele ein wenig helfen würde – meistens waren es ehemalige Kameraden seiner Mannschaft –, dann wäre es längst um ihn geschehen. So kam er wenigstens hin und wieder an ein bisschen Fusel oder einen Happen Essen. Aber Anne hatte nichts zu verschenken. Sie wich einer Prügelei aus und erreichte endlich ihr Ziel. Ein kleines Haus, ganz am Rand des Ortes. Gebaut aus dicken Balken, sah es mit seinem tief heruntergezogenen Dach ein wenig wie ein Mann aus, der sich einen Hut in die Stirn gedrückt hat.
    Anne hob ihre Hand und klopfte. Niemand öffnete. Sie klopfte noch einmal. Fast hätte sie sich schon umgedreht, als sich die Tür langsam auftat. Ein dicker Mann tauchte auf. Sein weißes Hemd war fast sauber, die Hosen hatten nur wenige Flicken, und seine Hände sahen nicht so aus, als ob er viel körperliche Arbeit verrichten würde. Er musterte sie, ohne ein Wort zu sagen, aus seinen wässrigen hellblauen Augen. Anne fühlte sich unwohl. Sie wusste, was er vor sich sah: eine sehr junge, magere Frau mit dunkelgrünen Augen, tiefen Augenringen und zu vielen schwarzen Locken auf dem Kopf. Ein etwas zu tiefer Ausschnitt, um noch anständig zu sein – und ohnehin: Es gab keine anständigen Frauen in diesem Ort. Ein Rock mit bunten Bändern vervollständigte ihre Kleidung. Schuhe trug sie keine. Hier in der Bucht war das Wetter immer mild, sie musste sich nicht gegen Kälte und Nässe schützen. Außerdem waren Schuhe etwas für die anständigen Frauen.
    Der Mann sah sie noch immer wortlos an. Anne schluckte. »Bitte lasst mich ein. Ich muss mit jemandem reden. Und dafür seid Ihr doch da? Die Leute sagen, Ihr hört zu. Dann müsst Ihr auch mir zuhören! Stimmt doch, oder?«
    Samuel Marsden seufzte. Er hatte eigentlich auf einen ruhigen Nachmittag gehofft. Er wollte ein wenig an seiner nächsten Sonntagspredigt arbeiten und vielleicht auch nach seinen Reben sehen, die er im Garten hinter dem Haus gepflanzt hatte. Und jetzt stand eine der Dirnen der Stadt vor ihm. Allein dieser Ausschnitt sollte eigentlich reichen, dass Gott einen Blitz auf sie herabfahren ließ. Und dann dieser Rock. Die roten Streifen, mit denen er besetzt war, machten schon klar, womit dieses Mädchen sein Geld verdiente. Er sah ihr ins Gesicht und versuchte sich zu entscheiden, was er mit ihr anstellen sollte. Einfach weiterschicken? Wahrscheinlich bekam er nur Ärger mit Jameson – denn wenn er sich richtig erinnerte, gehörte sie zu seinen Mädchen. Die stolze Anne. So wurde sie genannt, das fiel ihm plötzlich ein. Weil sie nicht mit jedem redete und auch nur für die reicheren Seeleute zu haben war. Jung und gesund, alle Zähne im Mund und der Bauch noch durch keine Schwangerschaft verunstaltet – das machte sie zu einer der schönsten Frauen in Kororareka. Das musste sogar ein Missionar wie er zugestehen. Er holte noch einmal tief Luft, dann trat er zur Seite und machte eine einladende Bewegung mit der Hand. »Komm rein. Ich weiß nicht, was du von mir willst – aber eine Tasse Tee bekommst du.«
    Anne nickte dankbar und huschte durch die Tür. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sie sah und dann Master Jameson von ihrem Ausflug erzählte. Der würde nur wieder wütend – und seinen Jähzorn hatte sie zu fürchten gelernt. Ebenso wie seine harten Fäuste, die er so gerne einsetzte, um seine Mädchen gefügig zu machen.
    Marsden nahm eine verbeulte Teekanne, die auf dem grob behauenen Tisch stand, und schenkte ihr den Tee in einen Becher. Er reichte ihr das dampfende Gebräu und deutete diesmal auf einen Stuhl. »Setz dich. Was liegt dir auf dem Herzen?« Seine Stimme klang nicht wirklich einladend.
    Anne schloss ihre Hände um seine Tasse und atmete für einen Augenblick den aromatischen Duft ein. Es roch nach Kräutern und der Wildnis, die sie hier umgab – aber ganz sicher nicht nach einem normalen Tee. Sie kannte die Antwort schon. Wie so viele Briten konnte Marsden sich keinen echten schwarzen Tee aus Indien leisten und verwendete stattdessen getrocknete Manukablätter. Sie schmeckten sowohl kalt als auch warm, und nicht wenige der Auswanderer behaupteten, dass dieser Tee sogar der Gesundheit förderlich sei. Aber sie war kaum hierhergekommen, um über die Vorteile des neuseeländischen Kräutertees zu sinnieren.
    »Ich hasse es! Ich hasse es! Ich hasse es!«, brach es aus ihr ohne eine weitere Vorrede

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