Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
eine Nische neben der Tür. Ohne den Afrikaner fürchtete er sich. Was, wenn ihnen die üblen Gesellen, die ihnen vorher begegnet waren, noch einmal über den Weg liefen? Würden sie ihn in Ruhe lassen? Er drückte sich noch ein wenig enger gegen die Wand.
Eine junge Frau, deren schwarze Locken von einem dunkelroten Tuch nur knapp gebändigt wurden, lächelte ihm zu. »Was hat dich denn hierher gebracht. Bist du nicht ein bisschen zu jung für dieses Kaff? Weiß deine Mutter, wo du dich rumtreibst?«
»Ich bin schon dreizehn Jahre alt«, trumpfte der Junge auf und merkte, dass er gleichzeitig rot wurde. »Und wenn meine Mutter nichts dagegen hat, dass ich als Schiffsjunge anheuere, dann darf sie auch nichts dagegen haben, dass ich hier in diesem Gasthaus bin.«
»Gasthaus?« Die Frau sah sich mit einem abschätzigen Lächeln um. »So kann man das auch nennen. Aber ich versichere dir, dass hier noch ganz andere Dinge als heiße Pasteten serviert werden. Und die sind nichts für kleine Jungs …«
Er sah sie sich genauer an. Ihre feine Haut und die funkelnden Augen sahen so gar nicht nach einem der Mädchen aus, von denen ihm die anderen Männer immer erzählt hatten. Nein, sie sah aus wie eine echte Lady. Oder zumindest so, wie er sich eine echte Lady vorstellte.
»Wie ich schon gesagt habe«, begann er. »Ich bin kein …«
Sie winkte ab. »Will ich gar nicht wissen. Du bist ein Mann, wenn auch ein kleiner, und du bist in diesem Haus gelandet. Das erklärt alles. Aber ich habe für heute genug von stinkenden Männern und Jungs, wie du es bist.« Sie drehte sich um und schlüpfte durch die Tür nach draußen.
Der Junge sah ihr hinterher. So musste eine Frau sein, wenn er sich mal eine nehmen wollte. Eine, die so aussah, als ob ihre Lippen nach frischen Kräutern schmeckten.
»Hat sie etwa mit dir geredet?«, staunte neben ihm sein Begleiter und drückte ihm eine dampfende Pastete in die Hand. »Welch eine Ehre! Aber für die bist du ein paar Nummern zu klein. Das ist die stolze Anne. Eine der Königinnen von Kororareka. Kann sich nur ein Käpten leisten – und das vielleicht auch nich’ für mehr als ein paar Tage. Iss lieber deine Pastete. Ist mit echtem Schweinefleisch gemacht. Und Süßkartoffeln. Wird dir schmecken.«
Der Junge sah immer noch zu der Stelle, an der die junge Lady verschwunden war. »Das ist ein Mädchen, das es für Geld macht? Aber – sie ist doch eine echte Dame!«
Der Neger zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, was sie hierher verschlagen hat. Aber was auch immer sie wirklich ist – sie ist schon seit über einem Jahr hier. Die findet nie mehr den Weg nach Hause zurück, egal wie hübsch sie ist oder wie fein sie sich aufführt.«
Bedächtig kaute der Junge seine Pastete. »Die ist eine Lady, ganz bestimmt«, erklärte er. »Und wenn ich das nächste Mal hierherkomme, dann bin ich reich genug. Dann hat sie Zeit. Auch für einen wie mich.«
Der Afrikaner lachte und zeigte auf eine Blondine. Nicht ganz so jung und nicht ganz so schön wie Anne. »Die da ist eher was für dich, Bürschchen. Man sollte schon wissen, was man sich leisten kann und was nicht. Sogar wenn man nur ein kleiner Schiffsjunge auf einem nicht allzu großen Walfänger ist.«
Austin schüttelte trotzig den Kopf. »Nein. Ich will nur die eine!«
2.
Auf der Straße schloss Anne für einen kurzen Moment die Augen. Täuschte sie sich, oder wurden die Männer in Jamesons Bar immer widerlicher? Und wenn sie noch unschuldig und freundlich waren, dann handelte es sich um Kinder. Wie gerade eben dieser Schiffsjunge. Der gehörte eigentlich noch an den Herd seiner Mutter und nicht hierher. Von allen Orten der Welt am allerwenigsten nach Kororareka.
Sie zog ihr Tuch fester über ihr Haar und machte sich auf den Weg. Immer die Häuser entlang, die Augen fest auf den Boden gerichtet, um nur ja niemanden zu ermutigen, sie anzusprechen. Anne hatte nur wenig Zeit, und sie wusste ganz genau, wohin sie wollte. Ein zahnloser einbeiniger Mann hielt sie am Arm fest. »Wie sieht es aus, Püppchen? Versüßt du mir ein bisschen das Leben?« Er roch nach dem billigen Schnaps, der hier überall verkauft wurde.
Sie musterte ihn kurz, machte eine abwehrende Handbewegung und beschleunigte ihren Schritt. Ihr Mitleid mit diesem Treibgut der Weltmeere war schon lange verbraucht. Mit ihren Verletzungen waren diese Männer für den Walfang unbrauchbar geworden und hatten damit jede Chance auf eine anständige Heuer oder eine Fahrt
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