Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
verstaute ihn in dem einzigen Regal, das in diesem Raum an der Wand stand. »Es kann aber ein paar Monate dauern, bis ich wieder Post in die alte Heimat schicke.«
Sie nickte. »Das stört mich nicht. Hauptsache, meine Eltern machen sich keine Sorgen und erhalten die Post nicht von einem Mann, der sich verpflichtet fühlt, ihnen die Wahrheit über ihre Tochter mitzuteilen.«
Damit erhob sie sich und stellte die Teetasse fein säuberlich auf dem Tisch ab. »Vielen Dank für Eure Güte. Leider kann ich Euch nur ein Gebet als Dank anbieten …«
Marsden lächelte. »Das ich gerne annehme – im Gegensatz zu all deinen anderen Angeboten.« Er zögerte für einen Moment. Vielleicht war sie ja doch nicht nur ein dummes junges Ding, sondern konnte ihm mit ein wenig kluger Plauderei die Zeit vertreiben. Er dachte kurz nach, dann sprach er weiter. »Aber bleib doch noch einen Moment. Wenn du mich in den Garten begleitest, würde ich mich gerne noch ein wenig mit dir unterhalten. Verzeih meine Neugier – aber wie kommt es, dass deine Eltern dich haben gehen lassen? Und – wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf – du siehst auch noch reichlich jung aus. Wie alt bist du denn?«
Anne setzte sich nicht wieder hin. Sie blieb im Türrahmen stehen und sah den dicken Schotten abschätzend an. Ihr Gesicht verriet dabei nichts über ihre Gedanken. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Neunzehn Jahre zähle ich. Davon waren die ersten siebzehn Jahre mehr als glücklich – und dann beginnt eine Geschichte, die damit endet, dass ich hier bei Master Jameson in Diensten stehe und nur wenig über meine Geschicke selbst bestimmen kann. So gerne ich mit Euch noch plaudern würde: Ich habe keine Zeit. Master Jameson wünscht, dass ich den Kapitän der neu angekommenen Electra an Bord besuche und ein paar Tage mit ihm verbringe. Wenn ich Glück habe, dann ist er wenigstens gewaschen, und das Leinen in seinem Bett ist frisch. Meine Ansprüche sind ein wenig gesunken im Lauf der Monate …« Sie zuckte mit den Schultern, und ein bitterer Zug erschien um ihre Mundwinkel.
Marsden ahnte, dass aus diesem Gesichtsausdruck in ein paar Jahren tiefe Falten entstanden. Dann würde ihre Haut nicht mehr fein und strahlend sein und ihre Locken nicht mehr glänzen. »Wenn du in den nächsten Wochen oder Monaten nach jemandem suchst, mit dem du reden möchtest, oder wenn du einen weiteren Brief an deine Eltern oder einen anderen lieben Menschen schreiben möchtest – dann besuch mich einfach noch einmal. Versprichst du mir das?«
Sie nickte. »Ich komme wieder. Was immer so eine Zusicherung einer Hure auch wert sein mag.«
Damit drehte sie sich um und verschwand durch seine Haustür. Der dicke Missionar sah ihr nur einen Augenblick lang hinterher, dann verschwand er leise vor sich hin summend in seinen kleinen Garten. Er würde nie wieder von ihr hören, da war er sich sicher. Sei es, dass einer der betrunkenen Männer auf den Straßen Kororarekas ihr den Kopf einschlug oder dass sie anfing, den Hass über ihr tägliches Leben in Bier und Schnaps zu ertränken – sie würde sich nicht mehr bei einem Missionar an den Tisch setzen, nur um über ihr Unglück nachzudenken.
Anne huschte in der Zwischenzeit, so schnell es eben ging, in Richtung Meer. Einer von Jamesons Männern saß schon in einem kleinen Ruderboot und bedeutete ihr mit einer ärgerlichen Handbewegung, dass er bereits eine Weile auf sie gewartet hatte. Sie sah ihn nicht einmal an und ließ sich auf die feuchte Bank in dem kleinen Boot nieder. Während er langsam in Richtung des Schoners ruderte, schloss sie die Augen. Eine Woche mit einem Kapitän eines Walfängers, verkauft wie ein Stück Vieh. Daran konnte und wollte sie sich einfach nicht gewöhnen. Immerhin hatte sie sich selbst beigebracht, dass sie nur ihren Körper zur Verfügung stellte. In Gedanken war sie jedes Mal weit weg, irgendwo auf den Wiesen ihrer Kindheit …
Während sie die Leiter zur Electra erklomm und dabei genau spürte, dass die wenigen verbliebenen Seeleute an Bord ihr in den Ausschnitt sahen und versuchten, die Größe ihres Hinterns zu schätzen, sah sie sich mit hochmütiger Miene um. Im Lauf der letzten Monate hatte sie sich angewöhnt, wie eine Königin an Bord aufzutreten. Wenn man einem dieser Männer nur gerade in die Augen sah, dann senkten sie meist den Blick. Anne zwang jeden Einzelnen dazu, verlegen auf die Hände oder ans Ufer zu schauen. Zu ihrer Überraschung starrte nur der kleine
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