Im Land des weiten Himmels
Adam um und sah ihn in einer dunklen Ecke stehen. »Setz dich neben mich, Graubär … Es ist eine Geschichte, die auch dich betrifft, denn sie erzählt von deinem Schutzgeist, dem starken Bär.«
Adam stieg verwundert zwischen den Bewohnern des Hauses hindurch und setzte sich neben dem Häuptling auf den Boden – der Platz, der eigentlich dessen Frau oder wichtigen Gästen vorbehalten war. Adams Blick richtete sich auf die weiße Frau und wurde sanft, ein verlegenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Jedem der Erwachsenen musste klar sein, dass er Hannah verehrte.
Hannah spürte die neugierigen Blicke der anderen und errötete gegen ihren Willen. Hastig wandte sie sich dem kranken Mädchen zu. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie könnte die Zuneigung des jungen Mannes erwidern. »Siehst du, jetzt geht es dir schon besser«, sagte sie zu ihr.
Chief Alex stopfte seine Pfeife und ließ sich von seiner Frau einen glühenden Span reichen. Erst als der Duft seines mit Waldbeeren gemischten Tabaks die Luft erfüllte, begann er mit seiner Geschichte: »Vor langer Zeit saß ein Mann mit seinen Kindern an einem Feuer zusammen, und eines der Kinder sagte: ›Ich bin froh, dass du hier bist, Vater, denn du bist groß und stark wie der Bär. Du kannst uns vor wilden Tieren beschützen.‹ Der Krieger legte einen Holzscheit ins Feuer und wartete, bis die Funken stoben. ›Ich will euch ein Geheimnis verraten, meine Kinder‹, sagte er dann. ›Auch Bär war nicht immer so stark, wie wir ihn heute kennen. Im Gegenteil. Als Bär zum ersten Mal den Wald betrat, war er klein. So klein, dass ihn die anderen Tiere kaum sehen konnten. Eines Tages stieß Bär auf den verletzten Raben. Rabe lag verletzt auf dem Boden und konnte nicht mehr fliegen. Bär wusste nicht, was er tun sollte. Um ihn aufzuheben und in Sicherheit zu bringen, war Bär viel zu klein.«
Chief Alex legte eine Pause ein, paffte einige Male an seiner Pfeife, bevor er fortfuhr: »Als Bär schon weitergehen wollte, weil er ohnehin nichts ausrichten konnte, hielt ihn Rabe zurück: ›Wenn ich dich stark mache, wirst du mir dann helfen?‹ Bär hatte keine Ahnung, wie Rabe eine solche Verwandlung bewerkstelligen wollte, und ließ sich aus lauter Neugier darauf ein: ›Gut, ich werde dir helfen.‹ Er schob eine seiner winzigen Pfoten unter den Rücken des verletzten Raben und spürte plötzlich, wie seine Muskeln wuchsen und er immer größer und stärker wurde. Bär freute sich. Er trug den verletzten Raben in seine Höhle und pflegte ihn, bis er wieder gesund war und fliegen konnte. Bevor Rabe davonflog, bedankte er sich bei seinem neuen Freund und sagte: ›Von heute an wirst du jedes Mal, wenn du einem anderen Lebewesen hilfst, noch größer und stärker werden, und man wird dich als Häuptling des Waldes respektieren.‹ Seit dieser Begegnung half Bär noch vielen anderen Tieren und wurde zum stärksten und am meisten respektierten Lebewesen des ganzen Waldes.«
Hannah war tief beeindruckt von der Geschichte des alten Mannes und erkannte, dass in der Erzählung des Häuptlings genauso viel Wahrheit lag wie in den Märchen und Fabeln, die sie aus der alten Heimat kannte. Nur wer seine Stärke und sein Wissen an andere weitergab, errang den Respekt anderer Menschen. So wie der junge Adam, der zu seinen Wurzeln zurückgekehrt war, um mehr über sein Volk zu erfahren, und den starken Bären sogar als Schutzgeist gewonnen hatte. Und vielleicht wie sie, wenn sie den Indianern auch weiterhin zeigte, wie wichtig sie ihr als Nachbarn waren. »Eine gute Geschichte«, sagte Hannah.
»Und sie ist wahr«, erwiderte der Häuptling.
Dorothy war inzwischen eingeschlafen. Ihre Stirn war nicht mehr so heiß wie noch vor einer Stunde, und ihr Atem ging ruhig und regelmäßig. Das Aspirin und die beiden Märchen zeigten bereits Wirkung. Hannah strich ihr über die Stirn und streichelte auch den Teddybär in ihrem Arm. »Schlaf schön«, sagte sie leise, »morgen komme ich wieder und erzähle dir eine neue Geschichte.« Sie blickte den Häuptling fragend an. »Wenn ich kommen darf.«
»Du bist willkommen, Hannah!«
Erst auf dem Rückweg zum Haus fiel ihr auf, dass er sie zum ersten Mal mit ihrem Namen angesprochen hatte. Sie lächelte trotz der eisigen Kälte.
34
Hannah genoss beides, die andächtige Stille, wenn sie sich allein in ihrem Roadhouse aufhielt und der Husky ihr einziger Gefährte war, und die Nachmittage, wenn sie die Indianer besuchte und von
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