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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Wolfe
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bist du dran.« Sie ließ Dorothy von dem Tee trinken, lächelte nur, als sie das Gesicht verzog, und setzte den Becher erneut an ihren Mund. »So bitter ist die Medizin doch gar nicht. Warte, wir lassen mal Darling probieren …« Sie ließ den Teddy an dem Tee schnuppern und lächelte zufrieden. »Siehst du, ihm schmeckt die Medizin. Du sollst austrinken, hat er gesagt.«
    »Kriege ich dann einen Keks?«
    »Versprochen.«
    Dorothy griff nach dem Becher und trank, setzte ihn erst ab, als nur noch ein paar Tropfen drin waren. »Ich wusste doch, dass du ein tapferes Mädchen bist. Jetzt wirst du wieder gesund.« Sie reichte den leeren Becher und das Aspirin der Frau des Häuptlings. »Gebt ihr jeden Tag etwas von dem Pulver. Nicht zu viel, nur eine Prise.« Sie wandte sich an die Mutter. »Du hast eine tapfere Tochter. So tapfer war ich nicht, als ich klein war. Wie heißt du?«
    Die Mutter blickte den Häuptling und ihren Ehemann fragend an und erhielt ein Kopfnicken als Antwort. »Helen«, antwortete sie zögernd. Sie war eine zerbrechlich wirkende Frau mit schmalem Gesicht und dunklen Augen.
    »Warum setzt du dich nicht zu uns, Helen? Warum setzt ihr euch nicht alle zu uns?« Sie blickte die Bewohner der Reihe nach an. »Ich möchte euch eine Geschichte erzählen, ein Märchen aus meiner alten Heimat in Deutschland.«
    »Ja, Hannah. Erzähl uns eine Geschichte!«, sagte Dorothy.
    Hannah legte drei Schokokekse neben Dorothy auf die Matratze und ließ das Glas auch bei den Erwachsenen herumgehen. Süßigkeiten waren bei den Indianern besonders beliebt, hatte sie inzwischen herausgefunden.
    »Deutschland? Wo liegt Deutschland?«, fragte Chief Alex.
    »Weit weg … in Europa. Drei Monate braucht man mit dem Schiff.«
    »Liegt dort auch Schnee? Ist es dort auch kalt?«
    Hannah nickte. »Ja, aber die Winter dauern nicht so lange, und es wird auch nicht so kalt wie hier. Wir haben längere Sommer, und auch der Frühling und der Herbst bleiben länger bei uns. Es ist alles ein wenig … zahmer.«
    »Dann könnt ihr länger in euren Sommercamps bleiben.«
    »Wir haben keine Sommercamps, Chief Alex. In unseren Flüssen und Bächen gibt es keine Lachse, nur Welse und Forellen und kleinere Fische, und auch das Wild ist nicht so zahlreich wie bei euch. Viele Leute wohnen in Städten wie Anchorage und Fairbanks, die meisten leben aber auf dem Land. Wir hatten einen Bauernhof mit Kühen, Schweinen und Kartoffelfeldern.«
    »Dann musstet ihr nie Hunger leiden?«
    »Manchmal schon, unsere Familie war sehr groß, und nicht immer fiel die Ernte gut aus. Wir hatten nicht viel. Es gab immer Leute, die sich für was Besseres hielten und uns Steuern und Pacht abnahmen. Das weiß ich von meinen Eltern. Ich war damals noch zu jung und wusste nicht, warum wir nach Amerika auswanderten. In New York gab es keine Äcker. Erst als ich über Alaska und den hohen Norden las und Bildpostkarten von diesem Land hier sah, wusste ich, dass es einen Ort gab, an dem ich glücklich sein würde. Deshalb kam ich hierher. Dieses Land ist groß genug für uns alle.«
    Chief Alex setzte sich auf einen Stuhl, bedeutete den anderen, sich ebenfalls zu setzen, und nickte bedächtig. »Es wäre groß genug, wenn es nicht Menschen gäbe, die uns als Wilde beschimpfen und uns am liebsten alle töten würden.« Er blickte auf das kranke Mädchen, das Hannah erwartungsvoll ansah. »Welche Geschichte willst du uns erzählen?«
    »Das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein.« Das hatte sie als Kind am liebsten gehört. Sie verschränkte die Beine und versuchte sich an die Worte ihrer Mutter zu erinnern. »Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge Geißlein und hatte sie lieb, wie eine Mutter ihre Kinder lieb hat …«
    Hannah schickte das jüngste Geißlein in den Schrank statt in den Uhrkasten, damit ihre Zuhörer das Märchen besser verstanden, und ließ den Wolf im eiskalten Fluss statt in einem Brunnen ertrinken, nachdem man die sechs gefressenen Geißlein befreit und durch Wackersteine ersetzt hatte. Nicht nur Dorothy, auch die Erwachsenen strahlten vor Vergnügen, als sie die Geschichte mit einem fröhlichen »Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!« beendete.
    »Das war eine sehr schöne Geschichte«, lobte der Häuptling. »Die Tanana hören gerne Geschichten, besonders im Winter, wenn die Nächte lang sind und wir mehr Zeit haben. Willst du eine von unseren Geschichten hören?«
    »Sehr gern sogar«, erwiderte Hannah.
    Chief Alex blickte sich nach

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