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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Wolfe
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fallen dort oben gar nicht auf. Alaska hat weniger Einwohner als New York, oder sollte ich sagen, es gibt dort mehr Grizzlybären und Wölfe als Menschen im Rest der Vereinigten Staaten. Alaska ist ein großartiges Land, und was kümmert es uns da, dass die Sonne im Winter nur ein paar Stunden scheint und es so kalt wird, dass selbst die Eisbären frieren? Im Sommer ist es dafür ständig hell, und auf den Wiesen wachsen so viele Blumen, dass einem die Farben vor den Augen verschwimmen. Von den hübschen Indianerfrauen ganz zu schweigen, die … Aber die interessieren Sie sicher weniger, hab ich recht?«
    Hannah mochte den Alten. In seiner speckigen Kleidung sah er nicht gerade vertrauenerweckend aus, aber man spürte schnell, dass sich darunter ein anständiger und vor allem humorvoller Mensch verbarg. Ein bisschen derb vielleicht wie alle Männer, die abseits der Zivilisation leben, das Phänomen kannte sie aus ihren Heften, und ein wenig leichtsinnig im Umgang mit Indianerfrauen, wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was er erzählte, aber herzensgut und verlässlich. Sie schien der einzige Mensch zu sein, mit dem er sich an Bord unterhielt. Er erschien weder zum Essen noch zu den geselligen Abenden in der Social Hall und brummte nur etwas Unverständliches, als Hannah ihn darauf ansprach.
    »Ein Wilder«, bemerkte einer der Passagiere, als er beim Abendessen die Kartoffeln weiterreichte. »Ich bin ganz froh, dass er nicht zum Essen kommt, den Gestank könnte man ja nicht aushalten!« Er rümpfte die Nase und lachte Beifall heischend. »Schlimm genug, dass wir es noch mit Indianern zu tun haben, aber diese Fallensteller sind auch nicht viel besser. Bei uns in San Francisco würde man ihn einsperren.«
    »Ich habe noch nicht bemerkt, dass er stinkt«, erwiderte Hannah. Sie nahm dem Passagier die Schüssel mit den Kartoffeln ab und tat sich auf. Mit eisiger Miene fuhr sie fort: »Er riecht jedenfalls besser als manche Gentlemen, die glauben, sich übermäßig mit Duftwasser parfümieren zu müssen.« Sie verzog ihre Nase in Richtung des vorlauten Passagiers, eines Handelsreisenden, der tatsächlich wie eine Lady duftete. »Habe ich nicht recht, Mister?«
    »Sie verteidigen diesen Wilden, Miss?«
    Hannah blickte ihn furchtlos an. »Ich komme aus New York, da gab es Menschen in zerlumpten Kleidern, die in irgendwelchen Kellern hausten und mir doch tausendmal lieber waren als die piekfeinen Ladys und Gentlemen aus der Fifth Avenue. Ich habe mich mit dem Wilden, wie Sie ihn nennen, ausführlich unterhalten und kann nichts Anstößiges an ihm finden. Sicher, ins Waldorf-Astoria würden sie ihn in seinem Aufzug nicht lassen, aber wer will schon ins Waldorf-Astoria?« Sie kaute genüsslich. »Ich fühle mich hier draußen wesentlich wohler, und das beste Essen meines Lebens, das hatte ich bei einem Picknick im Mount Rainier National Park in den Cascade Mountains.«
    »Tatsächlich?« Der Handelsreisende gewann mühsam seine Fassung wieder. »Und wohin führt Ihr Weg Sie, wenn ich fragen darf? Juneau? Sitka?«
    Hannah hatte schon von den Zentren des ehemaligen Russisch-Amerika gehört. Mittelgroße Küstenstädte im dichter besiedelten Südosten von Alaska, die immer noch von der glorreichen Zeit zehrten, als der russische Zar in Alaska geherrscht und dort riesige Kirchen und Paläste gebaut hatte.
    »Nach Fairbanks … und dann immer geradeaus«, antwortete sie.

11
    Hannah genoss die Fahrt nach Norden. Anders als der Handelsreisende und zahlreiche andere Passagiere, die wegen des stärkeren Seegangs vor der Küste und des schlechten Wetters in der Kabine blieben, verbrachte sie viel Zeit an Deck und genoss den Ausblick auf die nebelverhangene Küste. Nur schemenhaft, wie der geheimnisvolle Zauberwald in einem Märchen, waren die Bäume zu erkennen, dahinter erhoben sich die mächtigen Gipfel der Coast Mountains in den grauen Himmel. Schroffe Felsen ragten bis weit ins Meer.
    Sie waren seit zwei Tagen unterwegs, hatten Vancouver Island hinter sich gelassen und fuhren an der kanadischen Küste entlang. Nur vereinzelt waren Siedlungen zu erkennen, winzige Fischerdörfer und Indianercamps, die wie Fremdkörper in der ansonsten unberührten Natur wirkten. Ein Totempfahl hob sich in leuchtenden Farben von den dunklen Bäumen ab. Einige Indianerfrauen, die gerade dabei waren, den gefangenen Fisch zu filetieren und auf Gerüste zum Trocknen zu hängen, blickten neugierig herüber, hielten aber nicht in der Arbeit inne. Auch für

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