Im Land des weiten Himmels
wieder. Die SS Yukon, die mit rauchendem Schlot an der Anlegestelle wartete, würde sie von ihm fort- und einer ungewissen Zukunft entgegenbringen. Vielleicht war es sogar besser so. Ein tränenreicher Abschied hätte ihre Verliebtheit nur noch verstärkt und sie unnötig leiden lassen. Eine Verliebtheit, mehr war es doch nicht. Hannah strich sich gedankenverloren mit dem Zeigefinger über die Lippen. Sie hatten sich ihrer Leidenschaft hingegeben und stürmisch geküsst, doch weder er noch sie hatten von Liebe gesprochen oder dem anderen irgendwelche Versprechungen gemacht. Er zog mit seiner Maschine durch die Lande und vollführte Kunststücke, und sie war nach Alaska unterwegs und würde dort wahrscheinlich anderes im Kopf haben. Ihre Leben verliefen in unterschiedliche Richtungen.
Doch was nützte alle Vernunft, wenn man diese braunen Augen und dieses unwiderstehliche, beinahe spöttische Lächeln nicht vergessen konnte und immer noch seinen Kuss auf den Lippen spürte? Auch im Hafen blieb sie noch einmal stehen und blickte sich minutenlang nach dem Piloten um, bevor sie einem Gepäckträger ihren Koffer reichte und die Gangway des Schiffes betrat.
Die Yukon war ein betagter Dampfer mit mehrstöckigen Aufbauten, die über die Hälfte des Schiffes einnahmen. Ein wuchtiger Schlot und zwei riesige Masten ragten aus dem Deck empor. Von der verglasten Brücke winkte ihr der Kapitän zu, als sie das Schiff betrat, ein bärtiger Mann in der dunklen Uniform der Alaska Steamship Company, der ständig verschmitzt zu grinsen schien, was man selbst aus dieser Entfernung erkennen konnte. Sie antwortete mit einem Lächeln und folgte dem Gepäckträger zu ihrer Kabine, einem winzigen und spärlich eingerichteten Raum auf der Backbordseite des Oberdecks. Gegenüber hing eines der zahlreichen mit Planen überzogenen Rettungsboote.
Bis zur Abfahrt war es noch eine halbe Stunde, genug Zeit, um ihren Koffer auszupacken und ihre Kleider in dem Schrank neben der Koje zu verstauen. Ihr Waschzeug legte sie in das kleine Waschbecken. Sie las das Informationsblatt, das man auf den Nachttisch gelegt hatte, und stellte erleichtert fest, dass die Mahlzeiten in der Schiffspassage enthalten waren und sie wahrscheinlich nur ein paar Cent für Trinkgelder ausgeben musste. So würde sie wenigstens nicht vollkommen mittellos in Alaska von Bord gehen. Sie hatte gehört, dass das Leben im Norden extrem teuer war. Wer wusste schon, wie lange es noch dauern würde, bis sie ihren Onkel wiedersah. In Fairbanks musste sie sicher ein oder zwei Nächte in einem Hotel übernachten, und sie brauchte Proviant für den langen Ritt in die Wildnis.
Sie warf einen Blick durch das winzige Fenster, das man beim Reinigen der Kabine übersehen haben musste, und verließ den Raum, um die Abfahrt des Dampfers an Deck zu erleben. Die Yukon war ungefähr so groß wie das Schiff, in dem sie vor dem Großen Krieg über den Atlantik gekommen waren, ließ aber keinerlei Erinnerungen an die Überfahrt aufkommen. Sie war damals noch ein Mädchen gewesen und hatte gar nicht richtig begriffen, was um sie herum vor sich ging und welchen Einschnitt die Fahrt mit dem Dampfer für sie bedeuten würde.
Im Heck des Schiffes trat sie dicht an die Reling. Die dunklen Gewitterwolken hatten sich verzogen, aber der Himmel war immer noch bewölkt und wölbte sich grau und schmutzig über der Stadt. Vom Fischmarkt drangen die aufgeregten Stimmen der Händler herüber, die selbst den Verkehrslärm und das Klingeln und Rattern der Straßenbahnen übertönten. Unter Hannah waren die Hafenarbeiter damit beschäftigt, die letzte Fracht zu verladen. Im Hafen wimmelte es von Menschen – vor allem Schaulustige, aber auch Passagiere, die gerade erst aus Taxis oder den Automobilen von Freunden und Bekannten gestiegen waren und zur Gangway strömten.
Hannah ließ ihren Blick über die vielen Menschen schweifen und gestand sich nur zögernd ein, nach Frank Ausschau zu halten. Einmal glaubte sie ihn entdeckt zu haben und hob schon die Hand, um ihm zuzuwinken, doch sie hatte einen anderen Mann mit ihm verwechselt, einen Passagier, der auf seine Frau gewartet hatte und sie jetzt mit einem Kuss begrüßte. Enttäuscht ließ sie die Hand sinken. Frank war nicht gekommen. Sie musste sich damit abfinden, dass die Tage mit ihm und der Kuss am Mount Rainier nur ein Augenblick in ihrem Leben gewesen waren, ein kurzer Moment der Ewigkeit, der keinerlei Bedeutung für ihre Zukunft haben würde. So schnell und
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