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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Wolfe
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sie war der Anblick des Dampfers längst zur Gewohnheit geworden. Im Schein eines Feuers spielten Kinder.
    »Sehen Sie den Totempfahl?«, fragte McGarrett, der wieder einmal neben sie getreten war, und nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Manche Leute glauben, das wären Marterpfähle. Die Indianer würden harmlose Reisende überfallen und sie langsam zu Tode quälen.«
    Sie blickte ihn fragend an.
    »Totempfähle erzählen Geschichten. Die eingeschnitzten Figuren stehen für bestimmte Ereignisse im Leben einer Familie. Die Tiergesichter gehören zu ihren Schutzgeistern, besonderen Totemtieren, die sie in einer Vision erkennen und das ganze Leben an ihrer Seite haben. Klingt wie Hokuspokus, ist aber keiner. Ich hab viel Zeit bei den Indianern verbracht und oft genug erlebt, wie jemand von seinem Totemtier gerettet wurde. Der Bruder meiner ersten Frau wäre ertrunken, wenn ihn nicht ein Delfin an die Küste geführt hätte.«
    Sie lächelte versonnen und wies auf zwei Delfine, die schon vor einiger Zeit neben dem Schiff aufgetaucht waren und es in eleganten Sprüngen begleiteten. Ihre nassen Leiber glänzten im fahlen Tageslicht. »Haben Sie auch ein Totemtier?«
    »Ich hab ein Gewehr«, erwiderte er und stieß ein Rauchwölkchen aus.
    »Und niemals Angst gehabt? Vor Bären und Wölfen?«
    Er paffte an seiner Pfeife. »Vor Tieren hab ich am wenigsten Angst. Gerade Bären und Wölfe haben mit uns Menschen wenig im Sinn und greifen uns nur an, wenn wir ihnen in die Quere kommen oder es nichts anderes mehr zu fressen gibt. Ich hab mehr Angst vor meinen Exfrauen und deren Verwandten.«
    »Sie haben noch eine Indianerin geheiratet?«
    Er hüllte sich in Tabakrauch. »Ich war insgesamt sieben Mal verheiratet, wenn ich richtig gezählt habe – immer mit Indianerinnen. Und alle hatten nach einer Weile genug von mir. Ich nehme an, weil ich zu oft … Nun ja, das erzähle ich Ihnen besser nicht, sonst bekommen Sie doch noch einen schlechten Eindruck von mir.« Er grinste verschmitzt. »Ich hab gehört, dass Sie mich verteidigt haben. Zwei Passagiere haben an der Reling über Sie gesprochen.«
    »Ich hab nur gesagt, dass Sie kein Wilder sind.«
    »Was gelogen war.«
    »Das glaube ich nicht, Amos.« Sie konnte den alten Fallensteller inzwischen gut leiden. »Sie sind mir lieber als diese herausgeputzten Gentlemen.«
    »Die Frau meines Bruders sagt was ganz anderes. Die war froh, als ich endlich meine Koffer packte. Ich wäre schlimmer als ein verlauster Indianer und würde nach Tabakrauch und ranzigem Fett stinken, und ich sollte doch zu meinen verdammten Squaws zurückkehren. Am liebsten hätte sie mich schon am Tag meiner Ankunft rausgeworfen. Mein Bruder wollte ihr aber unbedingt beweisen, dass ich ihnen in der Firma helfen könnte, und ich wollte ihn nicht hängen lassen, das war alles. Ich komme mit solchen Leuten nicht zurecht.«
    »Nehmen Sie deshalb nicht an den Mahlzeiten teil?«
    »Kann schon sein.«
    Gegen Abend erreichten sie Prince Rupert, eine größere Siedlung am Chatham Sound und Endpunkt der Grand Trunk Pacific Railway. Das Pfeifen der Lokomotive drang bis aufs Meer und ging erst im lauten Dröhnen des Signalhorns der Yukon unter. Wie ein stummer Wächter erhob sich der riesige Mount Morse auf der westlichen Seite der Bucht. Kühler Wind begleitete den Dampfer auf seiner langsamen Fahrt in die Bucht und an den Landungssteg.
    Hannah stand wieder an der Reling und bewunderte, mit welcher Präzision die Yukon im Hafen anlegte. Mehrere Matrosen sprangen an Land und vertäuten den Dampfer. Zwei Männer schoben die Gangway auf den Steg. Eine ganze Reihe von Passagieren verließ in Prince Rupert das Schiff und strömte zum Bahnhof, wo bereits der Zug nach Westen wartete. An der Strecke, die durch stark bewaldete Gebiete führte und längst von der Holzindustrie entdeckt worden war, lagen zahlreiche Städte und Dörfer und ein großer Handelsposten aus der Pionierzeit, wo mit Pelzen und Fellen gehandelt wurde. Die indianischen Jäger wussten, wo es noch Biber und Füchse gab.
    Das nasskalte Wetter erinnerte Hannah daran, dass sie sich mit neuer Kleidung versorgen musste, sobald sie an Land sein würden. Inzwischen trieb leichter Nieselregen über die Bucht, und sie fror selbst in ihrem Mantel. Dennoch blieb sie an Deck und blickte neugierig auf das geschäftige Treiben im Hafen hinab. Mehrere Arbeiter waren damit beschäftigt, die Fracht für Prince Rupert zu löschen, darunter sogar ein Fahrrad, das ein junger Mann aus

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