Im Land des weiten Himmels
Kap Hoorn gesegelt und beinahe in einem Sturm über Bord gegangen war und wie er es vor der Küste von Hawaii mit einem Wal aufgenommen hatte. »Kennen Sie Moby Dick«, fragte er in die Runde, »das berühmte Buch von Herman Melville? Ich kam mir beinahe wie Captain Ahab vor, als der Wal unser Beiboot mit seiner Schwanzflosse erwischte. Zum Glück verschwand er gleich wieder.«
Seemannsgarn, nahm Hannah an, tat aber so, als würde sie jedes Wort glauben, und nickte anerkennend, als er verriet, schon über vierzig Jahre auf See zu sein, davon über dreißig auf den großen Weltmeeren, er wisse schon gar nicht mehr, sagte er, wie man sich auf festem Boden bewegte. Eine Frau habe er nicht, wozu auch, er würde nur alle paar Wochen nach Hause kommen, und so ein Leben würde keine Frau der Welt mitmachen. »Und jetzt sagen Sie nicht, wir Seeleute hätten in jedem Hafen eine Frau sitzen«, fügte er lächelnd hinzu, »dafür hätte ich gar keine Zeit.«
Nach dem Essen verabschiedete sich der Kapitän, und Hannah unterhielt sich vor allem mit Schwester Becky. Sie hieß eigentlich Rebecca Stone, aber in Fairbanks nannte jeder sie nur Schwester Becky. Sie war vor zwei Jahren nach Alaska gegangen, aus Abenteuerlust, wie sie behauptete, und weil es ihr Freude bereitete, bedürftigen Menschen zu helfen. »Und bedürftig sind in Alaska vor allem die Indianer. Ich weiß, diese Holzköpfe von Lokal- und Ladenbesitzern, die Schilder wie ›Keine Indianer‹ an ihre Türen kleben, denken anders, aber die können mir sowieso gestohlen bleiben. Ich mache keinen Unterschied zwischen Weißen und Indianern, mir ist die Hautfarbe eines Menschen egal. Das Blut hat bei jedem die gleiche Farbe, allein das zählt. Und dass ständig Indianer bei uns auftauchen, ist nicht ihre Schuld. Wir haben ihnen die Krankheiten gebracht, an denen viele von ihnen sterben. Sie haben keine Abwehrkräfte gegen Masern und Pocken, weil es so was in Alaska gar nicht gab, bevor die Russen und später die Amerikaner kamen. Und dass sie Alkohol schlechter vertragen als Weiße, liegt an ihren Genen.« Sie hatte sich in Rage geredet und nahm einen Schluck Wasser. Leicht amüsiert fuhr sie fort: »Der Kapitän hätte Sie vor mir warnen sollen, ich rede immer so ein Zeug.«
»Wohnen denn viele Indianer in Fairbanks?«, fragte Hannah und erzählte, dass sie zu ihrem Onkel Leopold an einen Nebenfluss des Tanana River fuhr. »Dort soll es auch ein Indianerdorf geben, hab ich mir sagen lassen.«
»Sie sind mit dem Dutchman verwandt?« Die Krankenschwester griff nach der Flasche und schenkte sich nach. »Ein guter Kerl, der Dutchman … Allerdings hab ich ihn seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Es ging ihm nicht besonders gut, irgendwas mit seinem Magen.« Sie nahm einen weiteren Schluck. »Klar gibt’s da oben ein Dorf, überall im Landesinneren liegen Indianerdörfer. Am Gold River, so heißt der Nebenfluss, hat Chief Alex das Sagen. Nach Fairbanks kommen nur die Indianer aus der näheren Umgebung, die anderen besuchen meine Kolleginnen und ich mit dem Boot oder dem Hundeschlitten.«
»Sie können einen Hundeschlitten lenken?«
Schwester Becky stellte das Glas zurück. »Nur wenn es sein muss. Wir heuern einen jungen Indianer aus der Gegend an, der mit Hunden umgehen kann. Aber im Winter fahren wir nur selten. Die meisten Touren unternehmen wir im Sommer, da leben die Indianer in ihren Sommercamps an den Flussufern, und wir können sie leichter erreichen.« Sie wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Und Sie wollen tatsächlich beim Dutchman bleiben? Haben Sie denn keine Angst vorm Alleinsein? Ich bin ja einiges gewöhnt und hab sogar schon in der Wildnis übernachtet, aber allein da draußen? Und sie kommen wirklich aus New York?«
»Ich sehne mich seit vielen Jahren nach dem Norden, Schwester Becky, und wenn ich richtig zugehört habe, ging es Ihnen doch genauso?«
»Das stimmt«, antwortete sie, »und ich habe meinen Schritt auch nie bereut. Alaska ist wunderschön, allein das Nordlicht ist die Reise wert. Aber ein Blockhaus am Gold River ist was anderes als ein Apartment in Fairbanks.«
»Das will ich doch hoffen.«
Der Regen hatte bereits aufgehört, als Hannah sich verabschiedete und den Niedergang zum Oberdeck hinaufstieg. Doch der Wind, der ihr übers Meer entgegenwehte, war kühler geworden und ließ sie frösteln. Eine Hand am Aufbau, um mit ihren halbhohen Schuhen auf dem feuchten Boden nicht auszurutschen, tastete sie sich zu ihrer Kabine
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