Im Land des weiten Himmels
vor. Sie kam gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie eine dunkle Gestalt mit einer Wolldecke über den Schultern zum Rettungsboot vor ihrer Kabine schlich und wie versteinert stehen blieb, als Hannah in dem trüben Licht einer Positionslampe auftauchte.
Er drehte sich wie ein gehetztes Tier um, überlegte wohl, ob er fliehen sollte, und sah ein, dass er damit alles nur noch viel schlimmer gemacht hätte. »Bitte!«, flehte er leise. »Verraten Sie mich nicht! Nicht verraten, hören Sie?«
Hannah ging langsam auf den Indianer zu. Er war keine achtzehn, und sie konnte sich denken, wie sie in ihrem Sonntagskleid auf ihn wirken musste. Vornehme Ladys, die beim Anblick einer Schlange oder Spinne schrien, fürchteten sich auch vor Indianern, und wenn sie noch so zivilisiert waren.
»Hab keine Angst«, beruhigte sie ihn. »Wie heißt du?«
»Adam.«
»Einfach nur Adam?«
»Adam Parker«, antwortete er. »Ich bin bei einer weißen Familie in Prince Rupert aufgewachsen. Sie waren immer gut zu mir, aber jetzt ist die Zeit gekommen, einen neuen Weg zu gehen.«
»Du bist ihnen davongelaufen?«
Er traute ihr noch immer nicht und blickte nervös in die Runde. »Ich bin alt genug, um auf eigenen Füßen stehen zu können. Früher zogen die jungen Krieger noch eher fort. Ich folge meinem Traum, Miss.«
»Deinem Traum?«
»Folgen Sie keinem Traum?«, wagte er zu antworten. Er lächelte zum ersten Mal, seitdem er ihr begegnet war. »Ich habe Sie beobachtet, Miss. Sie sind anders als die übrigen Passagiere, Sie und der alte Mann mit dem Bart. Wenn Sie an der Reling stehen, sieht man, dass Sie einem Traum folgen.«
»Das stimmt«, antwortete sie. »Suchst du deine richtigen Eltern?«
»Die sind schon lange tot, Miss. Sie sind an den Masern gestorben.« Er zog die Plane von dem Rettungsboot und warf die Decke hinein. »Und Sie verraten mich wirklich nicht? Sie gehen nicht zum Kapitän?« Er kletterte in das Boot und warf ihr flehentliche Blicke zu. »Ich bleibe nur ein paar Tage, Miss.«
Sie antwortete mit einem Lächeln. »Nein, ich verrate dich nicht«, versprach sie ihm, wandte ihm den Rücken zu und schloss ihre Kabinentür auf.
12
Hannah sah den jungen Indianer nicht wieder. Als sie ihm am nächsten Morgen etwas zu essen bringen wollte, war er verschwunden, und nichts wies mehr darauf hin, dass er sich in dem Rettungsboot versteckt gehabt hatte. Wie bei den anderen Booten war die Plane fest verschlossen. Sie glaubte schon, geträumt und sich alles nur eingebildet zu haben, als der alte Fallensteller wie an jedem Morgen an die Reling trat und seine Pfeife paffte. »Hat keinen Zweck, nach ihm zu suchen«, sagte er. »Er hat sich aus dem Staub gemacht.«
Sie blickte ihn verstört an. »Wer? Von wem reden Sie, Amos?«
»Von dem blinden Passagier, der sich in dem Boot versteckt hatte.« McGarrett stützte sich auf die Reling. »Der arme Kerl hatte wohl Angst, dass Sie ihn beim Kapitän anschwärzen. Was meinen Sie, was der mit ihm gemacht hätte? Und was meinen Sie, was der arrogante Kerl, mit dem Sie sich beim Dinner angelegt haben, dazu gesagt hätte? Der Junge hätte froh sein können, wenn man ihn nicht über Bord geworfen hätte. Wäre nicht das erste Mal.«
»Und Sie? Warum haben Sie ihn nicht verraten?«
»Weil ich ein weiches Herz habe?« Er kicherte leise.
Sie blickte sich suchend um. »Und wo ist er jetzt? Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. In den Rettungsbooten ist er nicht.« Sie blickte über das Meer zur dicht bewaldeten Küste, die in ungefähr einer halben Meile Entfernung an ihnen vorbeizog. »Meinen Sie, er ist über Bord gesprungen?«
»In das kalte Wasser?« Der Fallensteller nahm seine Pfeife aus dem Mund und schüttelte den Kopf. »Auf einem Dampfer gibt es tausend Möglichkeiten, sich zu verstecken. Ich an Ihrer Stelle würde mir keine Sorgen um ihn machen.«
Sie legte eine Hand auf seine Schulter. »Sie sind ein guter Kerl, Amos.«
Er lachte schallend. »Das hat schon lange keine Lady zu mir gesagt. Nicht mal eine Indianerin. Die letzte war Catherine, eine Koyukon, mit der ich vor einigen Jahren …« Er bremste sich gerade noch rechtzeitig. »… als ich ihren fetten Hund aus dem Yukon River zog. Ein Jahr später landete er im Kochtopf.«
»Sie haben … Hund gegessen?«
»Was blieb uns anderes übrig? Es war ein harter Winter.«
Inzwischen hatten sie Alaska erreicht. Sitka, die ehemalige Hauptstadt von Russisch-Amerika, lag hinter ihnen, und an der Küste türmten sich
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