Im Land des weiten Himmels
Hannah ihn amüsiert und reichte ihm zum Abschied die Hand.
Ungefähr eine Stunde nachdem sie in Seward an Land gegangen waren, setzte sich der Zug in Bewegung. Schnaufend zog die Lok mit dem trichterförmigen Schornstein die Wagen aus dem Bahnhof. Schwester Becky, die ebenfalls nach Fairbanks fuhr, hatte sich Hannah gegenübergesetzt und bot ihr heißen Kaffee aus einer Thermosflasche an. »Den hab ich dem alten Koch auf der Yukon abgeschwatzt«, berichtete sie stolz.
Hannah nahm dankend an, auch wenn sie ihren Kaffee lieber mit Milch und Zucker trank. Immerhin war er stark genug. »Entschuldigen Sie, wenn ich das frage«, sagte sie nach dem zweiten Schluck und von reiner Neugier getrieben. »Fiel es Ihnen nicht schwer, Seattle zu verlassen? Ich meine … Hatten Sie keine Freundinnen … oder einen Freund, den Sie jetzt vermissen?«
Schwester Becky war geradeheraus. »Sie meinen, warum ich mir nicht einen Mann geangelt habe und stattdessen in einem gottverlassenen Nest lebe und kranke Indianer mit Pillen füttere?« Sie zuckte die Achseln. »Erstens, weil es mir hier gefällt. Es gibt kein schöneres Land als Alaska.«
»Das ist wahr«, sagte Hannah.
»Und zweitens, weil sich die Männer nie um mich gerissen haben. Vielleicht war ich zu hässlich oder zu alt, ich bin schon Mitte dreißig. Da, wo ich herkomme, mögen sie die Mädchen jung und knackig. Oder mein freches Mundwerk hat ihnen nicht gepasst. Ich habe immer die Wahrheit gesagt, das gefällt nicht jedem. Freundinnen hatte ich auch keine, und meine Eltern habe ich gerade besucht, sie besitzen einen Drugstore in Snohomish. Aber selbst wenn ich einen Mann gehabt hätte, wäre ich gegangen. In dem Krankenhaus, in dem ich angestellt war, hätte ich es keinen Monat länger ausgehalten. Da ging es nur um den Profit, und wenn jemand kam, der kein Geld hatte, schickte man ihn wieder nach Hause. Ich aber bin auf der Welt, um zu helfen, das weiß ich ganz genau.«
Hannah trank ihren Becher leer. »Ich weiß noch nicht, wozu ich auf der Welt bin. Auf keinen Fall, um in einem dunklen Loch in New York für einen Hungerlohn zu arbeiten. Ich gehöre hierher, das habe ich schon auf dem Schiff gemerkt. Mir ist das Herz aufgegangen. Es ist, als wäre ich ein neuer Mensch, seit ich hier bin. Ich brauche Platz, ich sehne mich nach Freiheit. Vielleicht führe ich meinem Onkel Leopold den Haushalt und helfe ihm in der Mine.«
»Ich weiß nicht, ob die so viel abwirft«, antwortete Becky, während der Zug in eine scharfe Kurve ging und sie kräftig durchgeschüttelt wurden. »Ich habe ihn nie mit Nuggets um sich werfen gesehen.« Sie trank ebenfalls ihren Becher leer und verschraubte die Flasche. »Hatten Sie denn keinen … Freund?«
»In New York?« Hannah blickte aus dem Fenster. »Ein paar Verabredungen, mehr nicht. Irgendwie war der Richtige nicht dabei. Vielleicht hab ich mich aber auch innerlich gesträubt, weil ich immer wusste, dass ich eines Tages in den hohen Norden gehen würde.« Sie lächelte. »Ich bin dem Nordstern gefolgt.«
»Eine Frau aus New York? Das ist selten.«
»Aus Deutschland«, verbesserte Hannah. »Schon als Kind in Württemberg habe ich mir gewünscht, einmal übers Meer zu fahren und ein Land zu finden, das so groß ist, dass man sein ganzes Leben laufen müsste, um es einmal zu durchqueren. Schon meine Eltern hatten diesen Traum. Leider sind sie nie über New York hinausgekommen. Sie sind beide tot. Ich vermisse sie.«
»Und sonst gab es niemand?« Becky verstaute die Thermosflasche in ihrer Reisetasche. »Manchmal kommt es mir so vor, als würden Sie sich nach einem Liebsten sehnen, als gäbe es da jemand. Sie haben so was Trauriges in den Augen. Ich weiß, wir kennen uns kaum, und es geht mich nichts an …«
»Das ist schon okay«, sagte Hannah leise, »ich habe Sie ja auch gefragt.« Sie atmete tief durch. »Ich habe einen Piloten kennengelernt.« Sie erzählte von Frank, war froh, sich einmal mit einer Frau aussprechen zu können, auch wenn sie mit allen Wassern gewaschen und etwas zynisch war. »Aber daraus wäre sowieso nichts geworden«, sagte Hannah nach ein paar Sätzen. »Er ist ein Barnstormer, einer dieser wilden Burschen, die mit ihrem Flying Circus durch die Lande ziehen und in jeder Stadt eine andere haben. Die können gar nicht treu sein. Kaum war ich an Bord, flog er mit einer Blondine durch die Gegend, direkt über mir, ich habe die beiden genau erkannt.«
»Na, dann«, sagte Becky nicht ganz überzeugt.
»Das Leben
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