Im Licht von Apfelbäumen | Roman
Straße entlang, beide keuchend, die eine weinend, im Humpeltrab. Er blieb stehen und sah ihnen nach. Der Junge an seiner Seite blickte zwischen Talmadge und dem zerlumpten Zweigespann hin und her. Ich krieg sie, Talmadge, ich krieg sie, sagte er, ganz aufgeregt.
Talmadge, wiederholte der Junge.
Talmadge sah den Mädchen nach.
Seine Mutter, seine Schwester und er waren im Sommer 1857 in das Tal gekommen, als er neun Jahre alt war. Vorher hatten sie im mittleren Norden des Oregon-Territoriums gelebt, wo sein Vater in den Silberminen arbeitete. Als die Minen einstürzten, wartete seine Mutter noch nicht einmal, bis der Leichnam seines Vaters mit den anderen heraufgeholt wurde, sondern raffte ihre paar Habseligkeiten zusammen und machte sich unverzüglich mit Talmadge und seiner Schwester auf den Weg. Sie zogen gen Norden, dann gen Westen, gen Westen, dann gen Norden.
Meist gingen sie zu Fuß und fuhren auf Pferdewagen mit, wenn welche kamen. Sie überquerten die Wallowas und die Blue Mountains und weite, verdorrte Ebenen, die einer Wüste ähnelten. Und als sie den Columbia River erreicht hatten, nahmen sie ein Dampfschiff stromaufwärts bis zu einer Flussmündung, wo das Dampfschiff nicht weiterfuhr. Sie würden zu Fuß gehen müssen, sagte der Kapitän zweifelnd; wenn sie über den Gebirgspass wollten, zur Küste, müssten sie sich jemanden suchen – einen Trapper, einen Indianer –, der sie führen könne. Auch davon ließ Talmadges Mutter sich nicht abschrecken. Vier Tage lang wanderten sie auf Berge zu, die nicht näher zu kommen schienen. Das Gelände stieg an, die Kaskaden erhoben sich vor ihnen wie Götter. Es war Mai; es schneite. Talmadges Schwester Elsbeth, die ein Jahr jünger war als er, fror; sie hatte Hunger. Talmadge rieb ihre Hände zwischen seinen und erzählte ihr, was sie essen würden, wenn sie sich erst irgendwo niedergelassen hatten: Maisbrot und Specksauce, Steckrüben, Apfelkompott. Die Mutter sagte, er solle nicht davon erzählen. Warum führte sie sie gen Norden und dann gen Westen, gen Westen und dann gen Norden, als steuerte sie auf ein schon ins Auge gefasstes Ziel zu?
Sie hatten gehört, dass viele, viele Meilen entfernt, aber nicht mehr so viele wie bei ihrem Aufbruch, auf der anderen Seite der Berge, der Ozean war. Dauerregen. Grün. Vielleicht waren sie ja dorthin unterwegs, dachte Talmadge. Manchmal dachte er auch – aber wie konnte er das denken, wie konnte ein Kind das von seiner Mutter denken? –, sie führte sie in den Tod. Ihre Mutter galt bei den anderen Frauen im Silberminenlager als sonderbar, das wusste er, er wusste, wie sie über sie geredet hatten. Aber er glaubte nicht, dass etwas mit ihr nicht stimmte (was er gerade noch gedacht hatte, war vergessen); sie wollte bloß andere Dinge als diese Frauen. Das unterschied seine Mutter von ihnen. Wo manche Frauen sich nur mehr Privatsphäre wünschten, sehnte sie sich nach vollkommener, ans Grausame grenzender Einsamkeit; Einsamkeit, die einen unablässig auf einen selbst zurückwarf, auch wenn man es nicht mehr wollte. Doch sie sehnte sich trotzdem danach. Von frühester Kindheit an hatte sie allein sein wollen. Die Stimmen anderer Menschen zerrieben ihre Nerven. In die Stadt zu fahren, mit anderen Menschen als Talmadge oder seinem Vater oder seiner Schwester umzugehen, war eine Qual für sie; es zog Tage von ihrem Leben ab. Und so wanderten sie immer weiter: um einen Ort zu finden, der sie – seine Mutter – absorbieren und auslöschen würde, einen Ort, der ihr Zuhause wäre und ein Zuhause für ihre Kinder. An dem sie ihren Kindern zeigen konnte: Und ihr gehört der Erde, und die Erde ist hart.
Sie kletterten durch kältebittere Wälder und machten Rast auf hellen Wiesen voller Wildblumen und summender Insekten. Vielleicht, dachte Talmadge, waren sie schon gestorben, und dies war der Himmel. Bisweilen schien es leicht, das zu glauben. Sie kamen zu einem Bergbaulager, wo fünf Männer in einer offenen Hütte saßen, zitternd, unterernährt, und sich die Hände am Feuer wärmten. Draußen regnete es leicht. Als Talmadge und seine Mutter und Schwester sich ihnen näherten, sahen die Männer sie an, als wären sie Gespenster. Ihre Mutter fragte sie, ob sie etwas zu essen erübrigen könnten. Die Männer starrten sie nur an. Sie starrten die Kinder an. Wo wollen Sie hin?, fragte einer von ihnen schließlich. Sie sollten nicht hier sein. Die Männer hatten ein paar Bohnen, die sie mit ihnen teilten, sie aßen sie
Weitere Kostenlose Bücher