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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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besondere Melancholie hervor und ein Gefühl der Leere.
     
    Unter den Männern waren bisweilen auch ein paar Jungen – zwei oder drei, selten mehr. Manche dieser Kinder tauchten nur einmal auf; kamen zu einer Jahreszeit mit und danach nie wieder. Ein Einziger war von Anfang an immer dabei, der Neffe des Anführers der Nez Perce, ein Junge, den Talmadge und Elsbeth als Clee kannten; er hatte noch einen anderen, privaten Namen, den nur die Männer verwendeten. Er war dunkelhäutig, muskulös, groß gewachsen, mit einer breiten Stirn, die ihn nachdenklich wirken ließ, und einem sensiblen, ausdrucksvollen Mund, obwohl man ihn nicht viel lächeln oder sonst übermäßig das Gesicht verziehen sah. Schon als Kind war er auf eine stille, erbitterte Art aufmerksam. Sein Haar reichte ihm fast bis zu den Ellbogen; manchmal war es zu zwei Zöpfen geflochten, und die kürzeren Strähnen fielen ihm in die Augen.
    Doch von Anfang an war etwas an Clee auffallend anders. Er sprach nicht. Und zwar nicht aus Schüchternheit oder weil er Talmadge und seiner Schwester gegenüber gehemmt gewesen wäre oder beschlossen hätte, nicht mit Weißen zu sprechen: Er sprach überhaupt nicht, auch nicht mit den Männern. Taub war er nicht, denn er hörte die Geräusche, die auch Talmadge und seine Schwester hörten, wandte den Kopf, reagierte körperlich so wie sie. Er hatte die Angewohnheit, den Kopf leicht zur Seite zu neigen, wenn ihn jemand ansprach. Aber kein Wort kam über seine Lippen, nie.
    Was hat er denn?, fragte Elsbeth einmal ihre Mutter. Ihre Mutter, die gerade am Bach hockte und das Geschirr spülte, zuckte die Schultern. Vielleicht ist etwas mit seinen Stimmbändern nicht in Ordnung, sagte sie. Oder – vielleicht möchte er einfach nicht sprechen.
    Aber warum nicht?
    Ihre Mutter zuckte erneut die Schultern. Ich weiß es nicht, Kind, sagte sie.
    Talmadge konnte sich an keinen bestimmten Moment erinnern, in dem er und Elsbeth sich mit Clee angefreundet hatten. Doch sobald die Männer mit den Pferden auf das Feld geritten kamen, gingen Talmadge und Elsbeth zu ihm, und wenn sie im Wald allein waren oder im Canyon, zeigten sie ihm die Schätze, die sie horteten – Steine, Süßigkeiten, Stücke von Tierfellen –, und Plätze, die sie entdeckt hatten, Nischen und Ritzen, merkwürdige, in Sonne getauchte Becken aus Gras tief im Inneren einer Brombeerhecke. Und Clee wiederum zeigte ihnen Gegenstände, die er in jenem Jahr bei Auktionen gesammelt hatte, kleine Spielsachen oder Schnitzereien, gefaltete Bilder, Karneval- oder Tingeltangelplakate, sogar Stofffetzen – Samt, Satin, Chamois –, die sie zwischen den Fingern, an ihren Lippen oder Wangen rieben. Dann schien es ganz und gar unwichtig, dass Clee nicht sprechen konnte oder sprach. Ihre Freundschaft hatte keinen Mangel, es fehlte ihr nichts.
     
    Talmadges und Elsbeths Mutter starb im Frühjahr 1860 an einer Atemwegserkrankung. Zwei Jahre später ernteten sie 0 , 8  Hektar Äpfel und 0 , 4  Hektar Aprikosen, und von dem Geld, das sie mit dem Verkauf der Früchte verdienten, rissen sie die Bergarbeiterbaracke ab und bauten sich eine Hütte mit zwei Zimmern. Talmadge war fünfzehn Jahre alt, Elsbeth vierzehn. Im darauffolgenden Frühling pflanzten sie drei Pflaumenbäume auf einer Seite der Hütte und vor dem Eingang zum Canyon die ersten Apfelbäume.
    Im Herbst 1864 bekam Talmadge die Pocken, die ihn beinahe das Leben gekostet hätten. Er behielt böse Narben auf Gesicht, Brust und Armen zurück und blieb auf dem rechten Ohr teilweise taub. Im Frühling darauf wurde der Canyon überflutet und sie verloren viele Apfelbäume. Dann, im Sommer desselben Jahres, ging Elsbeth eines Tages in den Wald jenseits des Feldes, um Kräuter zu sammeln, und kehrte nicht zurück. Er holte sich Unterstützung von den Bergarbeitern im Peshastin-Lager, und als sie seine Schwester nicht finden konnten, fragte er die Männer, die mit den Pferden vorbeikamen, ob sie ihm suchen helfen würden. Clee entdeckte ihre Haube, ein anderer ihren Korb. Das war alles, was sie je fanden.
     
    Elsbeth Colleen Talmadge. Sie hatte schwarzes Haar wie er, wie ihre Mutter, und eine große Knollennase. Diese Nase wird ihr Verhängnis sein, murmelten die Schwestern seiner Mutter. Eine Missbildung (dabei war es das gar nicht, nur ein stark ausgeprägtes Merkmal) verborgen unter der Kleidung war eine Sache, aber mitten im Gesicht – sie tat ihnen leid. Talmadges Mutter sagte nichts dazu; über so etwas wie das

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