Im Mond des Raben
nachzulassen, wuchs ihre Bestürzung noch mit jedem Schritt. »Ich wusste nicht, dass es noch Éan gab. Nicht, bis du hierherkamst.«
»Aber ich bin schon über eine Woche bei euch!« Beinahe einen halben Monat. »Und du hast deinen Diebstahl nicht ein einziges Mal erwähnt.«
»Ich habe den Stein nicht gestohlen , Sabrine. Ich machte mir nur Sorgen, dass die Sinclairs die Kammer der Éan finden und den Stein mitnehmen oder zerstören würden. Das war, bevor ich wusste, dass sie nicht wie Rowland sind und alle hassen, die das Wesen eines Vogels in sich tragen.«
»Aber du hast mir nichts davon erzählt.«
»Vorhin im großen Saal … sowie mir klar wurde, wonach du suchtest, habe ich dich sofort hierhergebracht.«
Das stimmte, doch Sabrine war noch immer wie betäubt vor Entsetzen darüber, dass eine Angehörige ihrer eigenen Spezies beinahe ihr Volk vernichtet hätte, ob in guter Absicht oder nicht. Deshalb schüttelte sie nur stumm den Kopf, weil ihr ganzer Körper wie erstarrt von seelischer Bedrängnis war.
Verica hielt ihr das Bündel hin. Sabrine nahm es, und die Macht brandete um sie auf, als sie selbst durch das Rehleder hindurch Verbindung mit dem Stein aufnahm, wie es nur jemand von königlichem Geblüt außerhalb der heiligen Zeremonien tun konnte.
»Ich weiß, dass ich sofort etwas hätte sagen sollen, aber ich habe einfach nicht daran gedacht.«
»Du hast einfach nicht …« Sabrine versagte die Stimme.
»Es ist so viel geschehen, seit du kamst.«
Das war zwar wahr, aber kein großer Trost. »Mein jüngerer Bruder steht kurz vor seiner Volljährigkeitszeremonie … Vielleicht ist sie sogar schon vollzogen worden«, schloss Sabrine bitter.
Sie hatte es bisher vermieden, an diese Möglichkeit zu denken, weil sie nicht einmal in Betracht ziehen wollte, dass ihre Suche erfolglos bleiben könnte.
Anya-Gra hatte versprochen, mit der Zeremonie bis zum nächsten Vollmond zu warten, doch alle wussten, dass sie genauso gut auch ganz darauf verzichten konnte, falls sie sie noch länger hinausschob. Das war so, weil Sabrines Bruder schon kurz vor seinem endgültigen Übergang zum Mannesalter stand.
Und Chrechte-Magie nahm nicht immer Rücksicht auf den Zeitplan des spirituellen Führers; manchmal sprach auch ein anderer Mond den Raben in der Seele eines Chrechten an.
Bei Sabrine beispielsweise war es der Halbmond gewesen, und sie hatte während ihrer Zeremonie ein Geschenk von beispielloser Macht für ihre Generation erhalten.
»Es tut mir leid«, sagte Verica mit aufrichtigem Bedauern.
Bevor Sabrine zu diesem Clan gekommen war, hätte sie sowohl die Worte ihrer Freundin als auch die Qual in ihrer Stimme mit einem Schulterzucken abgetan. Ihre oberste und einzige Priorität wäre der Clach Gealach Gra gewesen.
Heute jedoch konnte sie Vericas offenkundige Bestürzung nicht so einfach ignorieren. Die Heilerin war viel zu intelligent, um nicht die schwerwiegenden Folgen ihrer Handlungsweise zu erkennen. Sie war darüber entsetzt und wurde deshalb von furchtbaren Schuldgefühlen geplagt.
Die sie nicht verdiente. »Die Katastrophe konnte noch abgewendet werden, Verica; das ist das einzig Wichtige.«
Ob noch rechtzeitig genug für ihren Bruder, würde Sabrine allerdings erst bei der Rückkehr zu ihrem Clan erfahren.
Verica sah jedoch alles andere als überzeugt aus und konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten.
Sabrine legte das Lederbündel vorsichtig auf das Bett und wandte sich ihrer Freundin zu. Von einem jahrelang unterdrückten Instinkt geleitet, breitete sie die Arme aus.
Und Verica ließ sich von ihr umarmen, während die Tränen in wahren Sturzbächen über ihre Wangen rannen. »Ich wollte niemandem schaden.«
»Ich weiß. Und es ist ja auch niemand zu Schaden gekommen.« Sabrine betete nur zu dem Schöpfer allen Lebens, dass sie mit dieser Behauptung recht behalten würde.
»Dein Arm wurde verletzt, als du angeschossen wurdest.«
Sabrine, die sehr viel besser zu kämpfen als zu trösten wusste, klopfte Verica etwas unbeholfen den Rücken. »Was sich zu meinem Vorteil auswirkte, da Barr mich in seinen Clan einführte, ohne meine Beweggründe infrage zu stellen.«
Verica trat zurück und wischte sich mit den Handrücken über die tränennassen Wangen. »Du hattest also von Anfang an geplant, dass Barr dich dort im Wald auffand?«
»Ja. Ich wusste, dass es dieser Clan sein musste, der den Stein gestohlen hatte. Der Clach Gealach Gra verschwand, bevor die Sinclairs ihre erste
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