Im Mond des Raben
ob jemand nahe genug war, um ihr Gespräch zu hören.
Doch sie waren ganz allein. Nicht einmal der zarte Herzschlag eines kleinen Nagers verriet dessen Anwesenheit.
Sie hätten diese Unterhaltung auch auf telepathischem Wege führen können, aber Sabrine machte sich Sorgen, dass ihre Kontrolle ihr dabei entgleiten könnte. Sie hatte schon zu viel verraten, wenn sie und Barr über ihre geistige Verbindung miteinander sprachen, und wollte nicht das Gleiche auch bei Verica riskieren.
»Weißt du etwas über die Volljährigkeitszeremonie unseres Volkes?«, fragte Sabrine.
Sie hatte von Verica erfahren, dass es außer ihr und ihrem Bruder keine weiteren Éan im Clan gab und sie seit dem Tode ihrer Mutter die letzten waren. Vermutlich ermöglichte ihre Faol-Natur es ihnen, sich ohne Volljährigkeitszeremonie fortzupflanzen und zumindest ihre Wolfsnatur an die nächste Generation weiterzugeben.
Verica nickte, und ein seltsamer Ausdruck erschien auf ihren Zügen, fast so, als hätte sie gerade eine bestürzende Erkenntnis gewonnen. Auf jeden Fall war sie viel unruhiger geworden, als die Frage es rechtfertigte … es sei denn, sie hätte selbst noch kein Volljährigkeitsritual durchlaufen. Aber nein, das war unmöglich. Sie musste eins durchlaufen haben, weil sie ihre besondere Éan-Gabe besaß, und zwar die sehr mächtige der Vorahnung.
Verica befeuchtete sich nervös die Lippen und zerknüllte mit den Händen die Falten ihres Plaids. »Meine Mutter vollzog die Zeremonie für mich, und ich tat es für Circin.«
»In den Höhlen der heiligen Quellen?«
»Aye.« Ein Ausdruck unerklärlicher Furcht erschien in Vericas Augen, und eine beinahe krankhafte Blässe verbreitete sich auf ihrem Gesicht.
»Die Faol haben uns den Clach Gealach Gra gestohlen.« Aber vielleicht wusste die Heilerin das ja schon und war deshalb innerlich so aufgewühlt? »Ohne ihn wird unser Volk aussterben, da die, deren Hände bei ihrer Volljährigkeitszeremonie nicht auf dem heiligen Stein lagen, weder unsere Éan-Gaben noch ihre Raben- oder Adler-Natur an die nächste Generation werden weitergeben können.«
Der Legende nach hatte es einst für jede der Vogel-Familien einen heiligen Stein gegeben, für die Adler, die Raben und die Falken. Doch nur einer war geblieben, und mit seinem Verschwinden war auch die Hoffnung für die Rasse der Éan geschwunden.
»Ich wollte nicht …« Verica verstummte, als ihre Erregung wuchs und ein Gefühl tief empfundener Reue in ihr aufstieg, das Sabrine mehr als deutlich spüren konnte. Dann griff Verica nach ihrer Hand. »Komm mit! Bitte! Ich muss dir etwas zeigen!«
Kapitel Achtzehn
N achdem Verica Sabrine mit der Kraft der Verzweiflung hochgezogen hatte, zerrte sie sie die Treppe hinauf und in das Zimmer, das sie jetzt mit Earc teilte. Dort lief sie zu der Truhe, in der sie die Waffen ihrer Großmutter aufbewahrte, und riss den Deckel hoch.
Sabrine, die gewöhnlich weder dumm noch blind war, wurde von dem Gefühl erfasst, dass die Dinge sich nun endlich aufzuklären begannen. Wie die Éan-Kräfte, die sie jedes Mal beim Betreten dieses Zimmers gespürt, aber Vericas machtvoller Éan-Gabe und der uralten Éan-Magie zugeschrieben hatte, die dem Schwert und Dolch anhafteten, die Verica so liebevoll gepflegt hatte.
Bevor die Heilerin ein Bündel aus feinstem Rehleder aus der Truhe nahm, wusste Sabrine schon, was es enthielt: den Schlüssel zum Fortbestand der Éan.
Das Gefühl des Verrats, das sie ergriff, war so heftig, dass es sie ins Taumeln brachte. »Du hast unseren heiligen Stein gestohlen?«
Verica war nicht nur selbst eine Éan, sondern auch Sabrines liebste Freundin, auch wenn sie sich noch nicht sehr lange kannten. Und diese Frau hatte den Schlüssel zur Zukunft ihres Volkes gestohlen?
»Nicht absichtlich!« Vericas Gesicht verzerrte sich vor hilfloser Verzweiflung, und Tränen schossen ihr in die sonst immer so ruhigen Augen. »Ich dachte, ich würde ihn beschützen.«
»Wusstest du, dass wir ohne ihn unsere Éan-Gaben nicht an die nächste Generation weitergeben konnten?«, fragte Sabrine, um ihrer Freundin eine Chance zu geben, ihre Unschuld zu beteuern.
»Meine Mutter sagte etwas darüber, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass das wahr sein sollte.«
Sabrine war einen Moment lang sprachlos über die Antwort ihrer Freundin. »Du hättest unser Volk vernichtet, weil du nicht an unsere Traditionen glaubst?«
»Nein, so ist das nicht.« Verica begann, auf und ab zu gehen, doch anstatt
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