Im Morgengrauen
von ihm umhüllt zu werden.
So vieles war geschehen, das ich nicht begreifen konnte. Die Anhäufung von Ereignissen hatte mir keine Zeit gelassen, mir wirklich Gedanken darüber zu machen. Ganz oben auf meiner Liste stand natürlich meine Metamorphose. Anna hatte mich nicht darauf vorbereitet, dass ich mich in etwas anderes als einen Löwen verwandeln könnte. Sie hatte von Wölfen und Raubkatzen gesprochen, niemals von Vögeln. Was hätte ich jetzt gegeben, um mit ihr Kontakt aufnehmen zu können! Leider hatte Yannick kein Festnetztelefon in seiner Wohnung und ich hatte mein Handy im Wald verloren.
Tränen stiegen mir in die Augen. Ich fühlte mich so einsam und zog die Decke enger um mich. Wieso musste Yannick weg sein? Wäre er hier geblieben, wäre das Ganze womöglich gar nicht passiert. Wieso wollte er unbedingt, dass ich ihn begleite? Hatte er etwa eine Vorahnung gehabt? Wusste er, was geschehen würde? Was wollten die Typen von mir? Das war kein Zufall. Ich glaubte, die zwei Männer aus Oyonnax wiedererkannt zu haben. Sie wussten sogar, wo ich wohne. Auch das deutete auf Vorsatz hin. Was hatte ich ihnen denn getan? Wieso konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Fragen über Fragen, die unbeantwortet blieben.
Ich beschloss, nach Hause zu gehen. Wenn ich mich beeilte, würde meine Großmutter bei meiner Ankunft schlafen. So würde sie das Verschwinden des Mofas gar nicht bemerken. Ich könnte ja morgen behaupten, es wäre in der Nacht aus der Scheune gestohlen worden.
Zunächst brauchte ich aber eine Hose. Yannicks Schrank musste sich im Nebenraum befinden. Es war das erste Mal, dass ich das Zimmer betrat, das scheinbar als Abstellraum diente. Schade eigentlich, denn es war groß. Das einzige Möbelstück war ein breiter Schrank, der die ganze Wand einnahm. Ansonsten gab es gestapelte Kartons in einer Ecke, in einer anderen Schuhe auf dem Boden, ein Haufen Wäsche auf einem Bügelbrett … und die große Sporttasche. Jene Tasche, die Yannick am Tag davor geschleppt hatte. Ich öffnete den Schrank, um nach einer Hose zu suchen und starrte entsetzt auf den Inhalt: Keine Spur von Kleidung … nur Waffen … von oben bis unten. Die Innentür war mit Fotos von Wölfen und Menschen plakatiert. Es handelte sich um Schnappschüsse. Die Aufnahmen waren mit Sicherheit heimlich entstanden. Erschrocken schloss ich den Schrank und lehnte mich gegen die Tür, als ob ihm irgendwas entspringen könnte. Mein Blick fiel dabei wieder auf die Sporttasche. Die Neugierde war zu groß, ich brauchte Gewissheit und musste reinschauen. Wie befürchtet, war sie ebenfalls voll mit Waffen.
RAUS! Ich musste einfach raus aus diesem Zimmer und verkroch mich wieder im Bett, um nachzudenken. Langsam sah ich klarer: der dritte Mann an diesem Morgen … Es war mir bekannt vorgekommen. Jetzt war ich mir sicher: Er war Yannicks Bruder. Wahrscheinlich glaubte er zu wissen, was ich war und wollte mich jagen. Was für eine Rolle spielte Yannick in dieser Geschichte? Natürlich hatte er die Angreifer erkannt. Nun war ich felsenfest davon überzeugt. Das erklärte auch, warum er keinerlei Angst verspürt hatte. Wusste Yannick, was ich war? Hatte er bloß einen Verdacht? Deswegen die ganzen Fragen über meine Mutter. Der Schuft! Und was war mit seiner Narbe? Vermutlich verdankte er sie wirklich einem Wolf. Er hatte das wie im Scherz gesagt, jetzt würde ich allerdings nicht mehr darauf wetten, dass es auch einer war. Einerseits weigerte ich mich zu glauben, dass er Bescheid wusste … andererseits war sein Verhalten oft so seltsam gewesen, dass alle meine Zweifel berechtigt schienen.
Plötzlich hörte ich, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Ich sprang aus dem Bett, um mich zu verstecken. Als ich am Plattenspieler vorbeilief, sah ich Yannicks Messer, nahm es an mich und postierte mich zwischen der offenen Tür und dem Regal. Je näher die Schritte kamen, desto heftiger pochte mein Herz. Hastig betrat jemand das Zimmer, durchquerte es, ohne zu zögern, und hob den Rucksack auf, der auf dem Boden neben der Gitarre lag. Als er sich umdrehte, entdeckte er mich. Für den Bruchteil einer Sekunde schien er völlig fassungslos zu sein … doch dann sah ich seine Erleichterung. Yannick! Ich hatte seinen Geruch erkannt, ehe ich ihn gesehen hatte, dennoch hatte ich mich nicht gerührt. Mit einem gedrückten Lächeln kam er näher.
„ Bleib wo du bist“, sagte ich mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen.
Im Grunde genommen war ich froh,
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