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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Béchar
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heimgesucht. Ein Falke mit Yannicks Kopf breitete seine Flügel über mir aus, um mich zu schützen. Yannicks schöne blaue Augen wurden durch die des Horus ersetzt.
    Als ich gegen halb zehn aufwachte, war ich erschöpfter als am Vorabend. Meine Großmutter und Marie hatten bereits gefrühstückt. Ich bat sie, mittags nicht auf mich zu warten: Ich würde ohnehin keinen Hunger haben und so könnte ich mir wenigstens Zeit lassen, denn das Buch aus der Bücherei über die Lykanthropie interessierte mich nach wie vor.
    So machte ich mich mit dem Mofa auf den Weg nach Oyonnax. Nach ein paar Kilometern fiel mir auf, dass mir ein Auto folgte. So schmal war die Straße nicht, der Wagen hätte mich schon längst überholen können. Langsam wurde ich unruhig. In einer Stadt wäre ich irgendwo abgebogen, womöglich in der Menge abgetaucht. Hier aber, in den Bergen, auf dieser Straße, konnte ich nur in die eine oder in die andere Richtung fahren. So fragte ich mich, wie weit es bis zum nächsten Dorf war.
    Plötzlich wechselte ein Kangoo, der mir entgegenkam, die Spur und fuhr genau auf mich zu. Ich riss den Lenker herum und sauste nur knapp an einem Baum vorbei. Ich holperte zirka fünfzig Meter über den unbefestigten Straßenrand und fiel hin. Das war weder ein Unfall noch ein Versehen gewesen, sondern pure Absicht! Der Wagen, der mir schon länger gefolgt war, hatte angehalten. Die Insassen beider Fahrzeuge gehörten zusammen. Auf der Straße hatte ich keine Chance, ihnen zu entkommen. Sie waren zu dritt, mit zwei Autos. Die einzige Lösung hieß: zu Fuß durch den Wald. Noch nie hatte mein Herz so gerast. Ich versuchte mich zu beruhigen, denn eigentlich hatte ich gute Karten. Selbst in meiner menschlichen Gestalt war ich schnell. Ich würde gleich die Kondition der Gestaltwandlerin auf die Probe stellen können. Also rannte ich los.
    Die Leichtigkeit, mit der ich einen bewaldeten Hang hochlief, verblüffte mich und ich fasste wieder Mut … bis ich über diese verflixte Wurzel stolperte. Mit verstauchtem Knöchel weiter zu laufen wurde zur Qual. Ich konnte nur noch humpeln und musste mit Entsetzen feststellen, dass mein Vorsprung immer kleiner wurde. Ich hörte die Stimmen meiner Verfolger und musste mich zusammenreißen, um nicht vor Wut und Verzweiflung zu brüllen. Mit jedem Schritt konnte ich schlechter auftreten. Ich fragte mich, ob die Schmerzen in meinem Knöchel bei einer Verwandlung schwinden würden. Oder würde ich etwa auf drei Pfoten humpeln müssen? Anna hatte behauptet, dass ich den Stein nicht bräuchte, um meine Gestalt zu wechseln, nur der Wille zählte. Ich wusste aber nicht, wie ich es anstellen sollte. Wie konnte ich zum Löwen werden, wenn ich tief in mir bloß den Wunsch verspürte, mich ganz klein zu machen? Die Stimmen kamen immer näher, es musste schnell gehen.
    Den Topas in der Hand betete ich, er möge mir erlauben zu fliehen. Fast im selben Augenblick spürte ich, wie mein Herzschlag blitzartig langsamer wurde. Hitze durchdrang mich, ein Kribbeln breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Meine Kleidung wurde immer größer, beziehungsweise ich immer kleiner. Die Wandlung hatte begonnen, aber nicht in einen Löwen; so viel war sicher. Ich hatte keine Ahnung, was aus mir wurde, nur eins stand fest: Ich war dabei zu schrumpfen. Meine Hose fiel als Erstes auf den Boden. Der Rest meines Körpers war nach wie vor von meiner Kleidung bedeckt, als ich eine schmerzhafte Verrenkung im Schulterbereich spürte. Reflexartig wollte ich mit den Armen nach hinten kreisen. Nichts geschah. Also versuchte ich meinen rechten Arm mit der linken Hand festzuhalten, um die ausgekugelte Schulter zu unterstützen. Verzweifelt musste ich erkennen, dass meine Vordergliedmaßen weder vor noch zurück wollten. Selbst meine Hände folgten nicht mehr den Befehlen meines Gehirns, geschweige denn meine Finger, die ich keinen Millimeter rühren konnte. Erst als Jacke und T-Shirt zu Boden fielen, begriff ich.
    Es gab keine Schulter mehr, keine Arme, keine Hände. Sie hatten fuchsroten Federn mit schwarzen Flecken Platz gemacht. Ich war gerade dabei, mich in einen Vogel zu verwandeln. Instinktiv breitete ich meine Flügel aus, und registrierte ein Knacken, als sie sich einrenkten. Auf einmal konnte ich sehen, wie meine Lippen hervortraten und sich spitzten, während sie sich nach unten bogen. Da die Stimmen meiner Verfolger immer lauter wurden, hoffte ich, die Metamorphose möge vollzogen sein. Den Topas im Schnabel flog ich

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