Im Namen der Toten - Rankin, I: Im Namen der Toten - The Naming of the Dead
und warum sie gestorben waren. Sie gab den Vergessenen und Vermissten eine Stimme. Eine Welt voller Opfer, die auf sie und andere Kriminalbeamte warteten. Auch auf solche wie Rebus, die einen Fall immer bis ins Kleinste zernagten oder zuließen, dass er an ihnen nagte. Die nie aufgaben, denn das wäre die letzte Beleidigung für diese Namen gewesen. Ihr Telefon brummte. Sie hob es ans Ohr.
»Sie waren schnell«, sagte Bain zu ihr.
»Ist die Homepage weg?«
»Tja.«
Sie fluchte leise. »Hast du was herausbekommen?«
»Scherben. Ich konnte mich nicht tief genug hineingraben, nicht mit den Geräten, die ich zu Hause habe.«
»Keine Abonnentenliste?«
»Leider nicht.«
Ein anderer Sprecher hatte das Mikrofon übernommen … die Namen gingen weiter.
»Kannst du noch irgendetwas probieren?«, fragte sie.
»Vom Büro aus ja, vielleicht ein oder zwei kleine Tricks.«
»Morgen also?«
»Wenn unsere G8-Oberen auf mich verzichten können.« Er machte eine Pause. »Es war schön, dich zu sehen, Siobhan. Tut mir leid, dass du Molly treffen -«
»Eric«, mahnte sie, »lass es.«
»Was denn?«
»Alles … nichts. Lassen wir’s einfach, ja?«
Darauf folgte ein langes Schweigen. »Bleiben wir Freunde?«, fragte er schließlich.
»Natürlich. Ruf mich morgen wieder an.« Sie beendete das Gespräch. Das war nötig, sonst hätte sie ihm gesagt: Bleib doch bei deiner nervösen, schmollmundigen, vollbusigen Freundin … mit ihr könntest du sogar eine Zukunft haben.
Es waren schon merkwürdigere Dinge passiert.
Sie betrachtete ihre Eltern von hinten. Sie hielten sich an den Händen, ihre Mutter hatte den Kopf an die Schulter ihres Vaters gelehnt. Siobhan stiegen Tränen in die Augen, aber sie schluckte sie hinunter. Sie dachte an Vicky Jensen, die aus dem Zimmer lief; und an Molly, die das Gleiche tat. Beide voller Angst vor dem Leben. Als Teenager war Siobhan aus vielen Zimmern gerannt, Zimmern, in denen ihre Eltern sich aufgehalten hatten. Wutanfälle, Kräche, Machtkämpfe, Spielchen. Und alles, was sie sich jetzt wünschte, war, dort zwischen ihnen zu stehen. Wünschte es sich, brachte es aber nicht fertig. Stattdessen stand sie fünfzehn Meter hinter ihnen und richtete ihre ganze Willenskraft darauf, dass die beiden sich umdrehten.
Doch sie lauschten den Namen … den Namen von Menschen, die ihnen völlig unbekannt waren.
»Nett von Ihnen«, sagte Steelforth und erhob sich, um Rebus die Hand zu schütteln. Die Beine übereinandergeschlagen, hatte er im Foyer des Balmoral Hotels gesessen. Rebus hatte ihn eine Viertelstunde warten lassen, während der er mehrmals an der Tür des Balmoral vorbeigegangen war und flüchtig hineingeschaut hatte, um zu sehen, welche Fallen ihn erwarten könnten. Die Stoppt-den-Krieg!-Demo war schon vorbei gewesen, aber er hatte noch gesehen, wie deren Ende sich langsam Richtung Waterloo Place hinaufbewegte. Siobhan hatte ihm gesagt, sie würde hingehen und dort vielleicht ihre Eltern treffen.
»Viel Zeit haben Sie ja nicht für sie gehabt«, hatte Rebus bedauernd gemeint.
»Und umgekehrt«, hatte sie gemurmelt.
Am Eingang zum Hotel standen Sicherheitskräfte: nicht nur der livrierte Portier – ein anderer als am Samstagabend -, sondern Männer, die Rebus für Beamte in Zivil hielt, vermutlich unter Steelforths Kommando. In seinem Nadelstreifenzweireiher sah der Mann vom Special Branch gediegener denn je aus. Nachdem sie einander die Hand geschüttelt hatten, deutete er auf den Palm Court.
»Vielleicht ein kleiner Whisky?«
»Kommt drauf an, wer zahlt.«
»Ich lade Sie ein.«
»In diesem Fall«, meinte Rebus, »würde ich wohl auch einen großen schaffen.«
Steelforths Lachen war laut, aber ausdruckslos. Sie fanden einen Tisch in einer Ecke. Wie durch Zauberhand erschien eine Cocktailkellnerin.
»Carla«, sagte Steelforth zu ihr, »bringen Sie uns bitte zwei Whisky. Doppelte.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Rebus zu.
»Laphroaig«, präzisierte der. »Je älter, desto besser.«
Carla senkte den Kopf und ging. Steelforth rückte sein Jackett zurecht und wartete, bis sie weg war, bevor er zu sprechen begann. Rebus beschloss, ihm zuvorzukommen.
»Ist es Ihnen gelungen, unseren toten Abgeordneten zu vertuschen?«, fragte er laut.
»Was gibt’s da zu vertuschen?«
»Das möchte ich von Ihnen wissen.«
»Soweit ich feststellen kann, DI Rebus, bestehen Ihre Ermittlungen bisher aus einem inoffiziellen Gespräch mit der Schwester des Verstorbenen.« Steelforth, der
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