Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
weiterfahren.
Er überquerte die nach heftigen Regenfällen oft überflutete Brücke und dankte welchem Gott auch immer, der über ihn wachte, als er die dunkle, auf Pfählen stehende Hütte erreichte.
»Madame Louiselle!«, rief er, noch während er die Frau aus dem Wagen hob und die Stufen hinauftrug. Sie wog fast nichts. Sie war groß, ansonsten aber nur Haut und Knochen. »Madame Louiselle!« Oben trat er mit dem Fuß gegen die Hütte.
Die Fliegentür ging knarrend auf, eine winzige schwarze Frau trat heraus. Sie musterte Raymond und seine Last. »Bring sie rein.« Sie trat zurück. »Hierhin.« Sie deutete auf ein Sofa, über das eine Steppdecke gebreitet war.
Raymond legte die reglose Frau ab.
»Wer ist sie?«, fragte Louiselle und zog den Stuhl neben das Sofa.
»Ich kenne sie nicht.« Raymond betrachtete eingehend Louiselles Gesicht. Madame Louiselle behandelte nur jene, die sie behandeln wollte. Sie fühlte sich nichts und niemandem verpflichtet. »Sie hat vielleicht jemanden getötet.« Fast wäre ihm noch eine Bemerkung über den vielgestaltigen Dämon herausgerutscht. »Sie glüht vor Fieber.«
Madame Louiselle berührte die Wange der Frau. »Rück die Lampe näher, cher .«
Er tat, wie ihm geheißen, und hörte, wie sie scharf einatmete.
»Ich kenne diese Frau, Raymond. Das ist Adele Hebert.« Sie legte Adele einen Finger an den Hals und tastete nach dem Puls. »Vor zwei Wochen ist sie zu mir gekommen. Ihre Zwillingsjungs hatten Fieber.« Langsam richtete sich Louiselle auf. »Ich konnte ihr nicht helfen.« Sie strich über Adeles Wangen und sah zu Raymond. »Wunderbare kleine Jungs, haben gerade das Laufen gelernt. Sind in ihren Armen gestorben, sie hat sie zwingen wollen, ihre Milch zu trinken.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin zu alt für solches Leid.«
»Zwei Wochen ist das her?« Raymond hatte nichts von einem Trauergottesdienst für zwei Kinder gehört.
»Adele«, antwortete sie, als könnte sie seine Gedanken lesen, »wollte die Leichname nicht hergeben. Sie sagte, es seien ihre Kinder, keiner hätte sie geliebt, keiner wollte sie haben, also würde sie sie selbst bestatten.« Sie seufzte und stand auf. »Ich mach ihr einen Tee gegen das Fieber. Wenn sie nicht trinkt, wird sie sich zu ihren Kindern gesellen.« Madame legte ein weiteres Mal die Finger an Adeles Hals und drückte leicht dagegen. »Und zu ihrer Schwester.«
»Ihrer Schwester?«
»Rosa Hebert.«
»Die Stigmatisierte war Adeles Schwester?« Unwillkürlich trat Raymond einen Schritt zurück. Rosa Hebert war einen tragischen, sinnlosen Tod gestorben. Man hatte die geistig Verwirrte gequält und so lange schikaniert, bis sie sich vergangenen Winter erhängte. Und hier lag jetzt also ihre Schwester – die er gefunden hatte, als sie über einem Toten kauerte, als wäre er ihre nächste Mahlzeit.
Madame streckte den Rücken durch. »Die Hebert-Familie hat zu viele Tragödien erlebt, cher . Adele hat alles verloren, was sie jemals geliebt hat.« Sie breitete eine Steppdecke über die schlafende Frau.
Raymond sagte nichts. Der Tod eines einzigen Kindes konnte eine Mutter in den Wahnsinn treiben. Adele hatte zwei Kinder und eine Schwester verloren. »Leidet sie nur unter dem Fieber, oder ist sie …«
Louiselle sah auf Adeles schweißüberströmtes Gesicht. Von der nassen Kleidung stieg Dampf auf. »Es ist mehr als das Fieber.« Sie seufzte. »Mehr werde ich nicht sagen. Nimm die Handschellen ab, und warte draußen.«
Raymond rührte sich nicht. »Sie ist meine Gefangene.«
»Das wird sie auch bleiben, nur dass sie dann tot ist, wenn du uns nicht allein lässt. Ich muss ihr die nassen Sachen ausziehen.«
»Sie ist stärker, als sie aussieht. Sehr stark vielleicht.« Als Madame darauf nicht reagierte, öffnete er die Handschellen und ging nach draußen. Die Tür ließ er als Vorsichtsmaßnahme einen Spalt breit offen.
Er zündete sich eine Camel an und blies den Rauch in die kühlen Luftwirbel, die um die Hütte strichen. Er spürte das Wetter. Die Metallsplitter in seiner Hüfte und seinem Rücken reagierten darauf, als stünden sie unter Strom, und erinnerten ihn daran, dass es für seine Zukunft keine Garantie gab. Jeder Schritt konnte sein letzter sein. Er inhalierte tief und dachte an Henri Bastions Leichnam, der am Straßenrand lag, wo jeder über ihn stolpern konnte. Er hatte weder den Sheriff noch sonst jemanden informiert. Noch nicht. Am Beaver Creek gab es keine Telefone und hier bei Madame Louiselle schon gar
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