Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
verursacht worden war. Für Henri Bastion konnte er nichts mehr tun, außer den Coroner zu benachrichtigen.
Er setzte sich hinters Steuer, wendete den Wagen und fuhr in die Stadt zurück. Im hellen Mondlicht betrachtete er das nun schlaffe Gesicht der Frau. Er glaubte, sie schon mal gesehen zu haben, konnte sie aber immer noch nicht einordnen. Ihre blutverschmierten Gesichtszüge waren vom Fieber verzerrt. Vielleicht fiel ihm ihr Name ein, wenn sie gewaschen war.
Früher hatte er alle jungen Frauen der Gemeinde gekannt. Mit den meisten von ihnen hatte er getanzt, hatte mit ihnen gelegentlich geflirtet und diejenigen, die Lust darauf hatten, zu weitergehenden Abenteuern verführt. Die Welt war eine Abfolge von Samstagabenden gewesen, an denen das Leben so einfach war. Der Geruch von Gumbo in einem gusseisernen Topf über dem offenen Feuer, der Rhythmus einer Fiedel, eine schöne junge Frau, die ihn anblickte, in ihren Augen ein Versprechen auf die Zukunft, während sie tanzten und der Bayou Teche sanft gegen das Ufer schwappte. Er konnte sich an den brennenden Alkohol in seiner Kehle erinnern, an den Geschmack der Küsse unter dem Vollmond. Aber das alles waren die Erinnerungen eines Toten.
Er ließ die Vergangenheit hinter sich, während er über die tückischen Straßen fuhr. Jene Nächte waren vorüber. Damals hatte er Träume gehabt, Wünsche und Ziele. Der Krieg hatte alles verändert. Er hatte ihn verändert, auf eine Weise, die er nicht erklären konnte, weder seiner Familie noch allen anderen. Das Leben, das er für sich ersehnt hatte, war ihm genommen und durch etwas Dunkles, Gewalttätiges ersetzt worden. Ihm war, als hätte ihn das Schicksal genau zu diesem Augenblick auf dieser einsamen Straße geführt, zu einem grauenvollen Mord und einer Verrückten.
Das Ruckeln des Wagens lullte sie ein. Schläfrig versuchte sie, die Augen offen zu halten, lehnte sich gegen den Sitz und sah nur starr geradeaus.
»Haben Sie Henri Bastion gekannt?« Er versuchte nicht an den Toten zu denken, den aufgeschlitzten Bauch, den Kopf, der nur noch an einem Stück Wirbelsäule und einigen Muskeln und Sehnen hing.
»Der loup-garou hat Hunger.« Speichel lief ihr über das Kinn. »Ich hab ihn getötet.« Ihr Hals zuckte.
Raymond beobachtete sie, achtete auf ihre Bewegungen, ihre Bereitschaft zum Angriff oder zur Flucht. Die Legende des loup-garou war bei den Anwohnern in den Wäldern weit verbreitet. Sie hielten das Wesen für einen Teufel, der seine Gestalt wechselte und sich der Menschen bemächtigte, ob sie es wollten oder nicht. Wenn Kinder in den Sümpfen verschwanden, wurden nur selten die Behörden in Kenntnis gesetzt. Die Eltern nahmen an, ihr Kind sei vom loup-garou geholt worden. Ging man zur Polizei, würde man nur Schande über die Familie bringen. Einer aus ihren Reihen war zum Teufel übergelaufen. Es war besser, Stillschweigen zu bewahren und alles zu vergessen. Und dafür zu beten, dass das besessene Kind niemals mehr den Weg nach Hause fand.
»Haben Sie Henri Bastion gekannt?«, wiederholte er seine Frage. Eine lange Pause. Er sah zu ihr. Sie war wach und hatte den Blick auf den Mond gerichtet, der ihnen zu folgen schien. »Was hat Bastion auf der Section Line Road gemacht?«
Ihre Augen glänzten im Fieber. Sie fuhr hoch, dann sackte sie gegen die Tür. Er befühlte ihre Stirn. Sie glühte. Wenn das Fieber weiter stieg, würde es ihr das Gehirn verbrennen. Sie brauchte einen Arzt.
An der Einmündung bog er nach Süden ab, weg von der Stadt und dem Gefängnis. Nachdem sie schon bei ihm im Wagen saß, war es das Beste, sie zu Madame Louiselle zu bringen, einer traiteuse , die mit Kräutern und Gebeten die Krankheiten der Armen behandelte, die sich keinen Doktor leisten konnten. Es war keine Zeit mehr, nach Lafayette und zu einem Doktor zu fahren. Doc Fletcher, der in New Iberia ansässige Arzt, war nicht in der Stadt. Wenn Madame Louiselle das Fieber nicht senken konnte, würde die Frau neben ihm sterben.
2
ber ihm wölbten sich die dichten Baumkronen, als Raymond in den schmalen Weg zu Madame Louiselle einbog. Die Frau neben ihm lehnte mit geschlossenen Augen an der Beifahrertür. Er legte ihr die Hand auf die Stirn, eine Geste, die so zärtlich war, dass er kurz zögerte. Unter seiner Berührung zuckte sie wie ein ängstliches Tier zusammen. Sie hatte das Bewusstsein verloren und war nicht mehr ansprechbar. Fieber. Wahnsinn. Er wusste es nicht. Er konnte nur
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