Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Vorgesetzten, seiner Bitte nachzukommen.
»Hallo«, sagte er.
»Hier ist Raymond Thibodeaux. Es ist etwas Schlimmes vorgefallen. Ich möchte Sie bitten, so bald wie möglich zur Bastion-Plantage zu fahren.«
Der Priester zögerte. Raymond hatte sich nicht mit seinem Titel vorgestellt, dennoch haftete seiner Stimme unüberhörbar die Autorität seines Amtes an. Er hatte, als er den Hörer abnahm, mit allem gerechnet, aber nicht mit Raymond. Eine dunkle Wolke hing über dem Deputy. Der Geruch des Todes haftete an ihm, seine dunklen Augen zeugten von Leid. Sogar jetzt noch, Monate nach Raymonds Rückkehr, erzählte man sich in der Gemeinde Geschichten über ihn – er soll eine der effizientesten Tötungsmaschinen der Army gewesen sein, ein Einzelgänger, der wie ein Racheengel über die Schlachtfelder gegeistert war. Oder wie jemand, der sterben wollte.
»Vater, haben Sie gehört, was ich gesagt habe?« Raymond verbarg seine Ungeduld nicht.
Der Priester sammelte sich. »Was ist geschehen?«
»Henri ist vergangene Nacht draußen am Beaver Creek umgebracht worden.«
Schlimme Ahnungen beschlichen den Priester. Böses war geschehen, wahrhaft Böses. Raymond Thibodeaux war wieder einmal der Vorbote kommenden Unheils. Es schien, als hätte Gott ihn verflucht. »Wissen Sie, wer ihn umgebracht hat?«, fragte er leise.
Raymond zögerte, bevor er darauf antwortete, als wollte er seine Worte abwägen. »Henri muss von einem wilden Tier angefallen worden sein. Ich kann Ihnen auch gleich die Wahrheit erzählen, am Morgen werden sowieso Gerüchte in der Stadt die Runde machen. Adele Hebert ist bei der Leiche aufgefunden worden. Man erzählt sich, sie sei von einem loup-garou besessen.«
Der Priester schluckte. Lebhaft stand ihm das Bild vor Augen und schien seine dunklen Ahnungen zu bestätigen: Die Sümpfe waren mit ruchlosen Wesen bevölkert. »Einem Werwolf?« Er zitterte, seine nackten Füße waren kalt. »Das glauben Sie doch nicht, oder?«
»Es spielt keine Rolle, was ich glaube. Ich mach mir Sorgen, was die Stadt glaubt. Es war ein grauenhafter Mord. Ich möchte Sie bitten, zur Bastion-Plantage zu fahren und die Familie darauf vorzubereiten. Sorgen Sie dafür, dass Mrs. Bastion dieser Werwolf-Geschichte keinen Glauben schenkt.«
Raymonds Tonfall ließ den Priester hochfahren. »Marguerite Bastion ist eine gebildete Frau und keine Närrin!«
»Vater, Ihnen und mir ist bewusst, dass es leichter ist, an das Böse zu glauben als an das Gute. Viele haben Rosa Hebert für eine Stigmatisierte gehalten. Unter anderem auch Sie, glaube ich.« Er klang ganz ruhig, weckte damit aber die persönlichen Dämonen des Priesters. Nicht sein Glaube an Rosa quälte ihn, sondern das Fehlen desselben.
»Rosa war ein Kind Gottes, auserwählt, die Male von Christi Leiden zu tragen, ein lebendiges Zeichen von Gottes Liebe und Opferbereitschaft. Sie war die Botschafterin Gottes. Der loup-garou jedoch ist nichts weiter als eine abergläubische Vorstellung zur Einschüchterung unbotmäßiger Kinder, bei denen die Eltern vor der Rute zurückschrecken. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun.«
»Aus Händen und Füßen zu bluten ist für mich irgendwie kein Zeichen von Gottes Liebe.«
Raymond wollte ihn provozieren, aber der Priester wusste seinen Ärger zu zügeln. »Raymond, ich weiß, wie sehr Sie zu leiden haben. Sie sind vom rechten Weg abgekommen.« Raymond hatte seit seiner Rückkehr aus dem Krieg keinen Fuß mehr in die Kirche gesetzt. Er lästerte und verstieß gegen Gott.
»Schön gesprochen, Vater. Trotzdem würde ich mich auch aufhängen, wenn ich jeden Freitag aus Händen und Füßen bluten würde.«
»Das ist Blasphemie.«
»Sie haben die Wunden gesehen, nicht wahr?«, sagte Raymond mit gleichgültiger Stimme. »Sie waren echt? Sie hat sie sich nicht selbst zugefügt?«
Er zögerte und wusste nicht genau, worauf Raymond hinauswollte. »Rosa war mit einer Gabe und einer Bürde gesegnet. Unter dieser Last ist sie zusammengebrochen. Sie ließ unseren Herrn im Stich und nahm sich das Leben. Es gab nichts, was ich dagegen hätte tun können.«
Einen langen Augenblick herrschte Schweigen zwischen ihnen. »Das ist nicht die Antwort auf meine Frage, sondern auf eine andere. Auf Wiedersehen, Vater, und viel Glück bei Mrs. Bastion.«
Der Priester hörte das Klicken in der Leitung. Er legte auf und trat ans Fenster. Gänsehaut zog sich über seine Beine. Bald würde das erste Licht zu sehen sein; zwecklos, wieder ins Bett zu
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