Im Netz der Meister 2
Sie hatte gewusst, dass sie wenig Geld bekommen würde, sie war ja in den letzten Jahren selbstständig gewesen und das höhere Arbeitslosengeld stand ihr nicht zu. Es würde alles knapp sein, aber schon irgendwie gehen.
Simone stellte sich jeden Tag den Wecker. Es war ihr wichtig, früh aufzustehen, früh online sein zu können und abends früh müde zu werden. Sie fürchtete sich vor schlaflosen Nächten und war froh, wenn sie gegen Mitternacht einschlief und von Albträumen verschont blieb. Ein Glas Rotwein vor dem Einschlafen wirkte fast so gut wie eine gelegentliche Portion Wick Medinait.
Wenn Simone sich morgens im »Harte-Liebe-Forum” einloggte tat sie so, als sei sie grade in ihrem Büro angekommen, »verschwand« dann im Termin, in einer Konferenz oder zum Essen mit Kunden. Sie gab sich als freiberufliche Lektorin aus, erzählte im Chat, sie sei außerdem Redenschreiberin für einen Bonner Politiker, alles topsecret natürlich. Anstrengend sei ihr Job, aber lukrativ.
Gegen zehn tauchte Simone in den Stinochats auf und plauderte und flirtete mit Vanilla-Männern. Sie hatte sich für jeden Account eine andere Mailadresse eingerichtet, damit sie ihre Kontakte besser koordinieren konnte. Sie surfte und las und postete und antwortete und kommunizierte.
Wen sie suchte, wusste sie nicht. Warum sie suchte, wusste sie nicht. Sie suchte einfach. Jeden Tag, den ganzen Tag.
Sie lernte unzählige Männer kennen. Manche sahen gut aus, manche waren dominant. Manche waren unterhaltsam, andere intelligent. Viele wollten sie kennen lernen. Keiner reizte sie.
Irgendwann würde sie dem Dom begegnen, der ihren Ansprüchen entsprach. Dem Mann, der so aussah, wie sie ihn sich vorstellte. Der gut situiert war und sozial abgesichert. Der sie liebte und begehrte, der sie führte, verführte, schlug und quälte und sie sexuell reizte.
Solange unterhielt sie sich eben gern, was sollte sie auch den ganzen Tag lang tun? Einen Haushalt hatte sie kaum zu versorgen, das »Wohnklo« hielt sie nebenbei in Ordnung, bei geöffneten Chat-Fenstern oder zwischen zwei Emails.
Simone ernährte sich von Dosengerichten, Süßigkeiten, Nudeln und Fertigsoßen, Brot und Aufschnitt. Sie trank täglich zwei Kannen Kaffee und rauchte fast sechzig Zigaretten am Tag.
Mittags hielt sie gewissenhaft ihre Chatpausen ein, gab vor, »zu Tisch« zu gehen, um bei »Luigi um die Ecke eine Kleinigkeit« oder »beim Spanier ein paar Tapas« zu essen.
Nachmittags und abends diskutierte sie im Forum des HLF eifrig mit, und sie beteiligte sich besonders engagiert an Themen im Bereich der Gedichte und Geschichten. Diese Stunden liebte sie. Dort konnte sie mit ihrer literarischen Bildung brillieren und mit ihrer geschliffenen Ausdrucksweise beeindrucken. Sie verriss wütend die Storys, in denen Gewalt oder Waffen im Zusammenhang mit BDSM eine Rolle spielten, bezog Stellung zu den heftigen Vergewaltigungs- und Schlachthausfantasien einiger User und kommentierte sexuelle Erfahrungsberichte.
Reime und Texte über sexuelle Selbstfindung wurden täglich veröffentlicht, Tagebücher mit privatesten Gedanken und Gefühlen, Erlebnisberichte über Sessions, Swingerclubbesuche, Parkplatzsex und Sklavinnenverleih. Simone lektorierte und rezensierte. Sie wies kalt lächelnd und unmissverständlich öffentlich darauf hin, als ein Schreiber seine eigenen Geschichten mit diversen Zweit- und Drittnicks lobpries und damit das Ranking der Geschichten beeinflusste. Sie enttarnte angebliche Paare wie »Tarzan und Jane«, »A-Quadrat und B-Quadrat« oder »Romeo und Julia« als eine einzige Person, die unter diesen Namen Texte veröffentlichte und immer selber hochjubelte.
Bald hatte Simone einen gewissen Ruf in der »Literaturszene« des Forums, und sie genoss es, dass ihr Beruf hier wenigstens zu einem Teil noch stattfand.
Natürlich wollte sie wieder einen »richtigen« Job haben, und sie bewarb sich auf etliche Stellenangebote. Sie musste der Arge monatlich mindestens acht Bewerbungen vorlegen, damit ihr Geld nicht gekürzt wurde. Sie kam nicht aus. Auch als sie begann, auf billigen Tabak umzusteigen und ihre Zigaretten in fertige Hülsen zu stopfen, reichte das Geld nur knapp zum Wohnen, Essen und Trinken. Bewerbungsmappen, Fotos, Druckerpatronen und Porto kosteten mehr, als sie beim Arbeitsamt alle sechs Monate geltend machen konnte.
Sie bewarb sich als Reinigungskraft im Fantasialand, in Hotels als Nachtwache oder als Zimmermädchen, als Kellnerin, an Tankstellen,
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