Im Netz der Meister 2
stand nur auf, wenn sie zur Toilette musste. Sie ging nicht ans Telefon, obwohl es mehrmals klingelte.
Am Tag nach Weihnachten raffte sie sich auf. So konnte es nicht weitergehen. Sie musste aus der Onlinefalle raus. Sie war zum zweiten Mal hinein getappt, nur hatte sie damals noch eine Familie und einen Job gehabt, für die sich der Ausstieg lohnte. Jetzt war sie allein, allein und arbeitslos. Ohne Geld, ohne Aussicht auf Entkommen aus Hartz IV. Selbstmitleid übermannte sie und sie heulte wieder. Die Erkenntnis war nicht neu, aber sie sagte sie wie ein Mantra auf: Ich muss einen Mann finden, der mich hier rausholt. Sie sah keine andere Möglichkeit. Sie war vierundvierzig, beruflich für viele Jobs überqualifiziert und für die meisten zu alt. Sie war seit Monaten arbeitslos. Sie würde keine Arbeit mehr finden.
Das wäre das Ende eines normalen Lebens. Bei dem Gedanken daran, für immer in dieser Wohnung bleiben zu müssen, nie wieder ohne Geldsorgen leben zu können, sich nie mehr auf etwas freuen zu können, schüttelte sie den Kopf und sagte zu ihrem Spiegelbild: »Nein. Du wirst das schaffen, hier rauszukommen.«
Simone beschloss, abzunehmen und Sport zu treiben. Am besten Laufen, Jogging, das kostete nichts. Schwimmen oder Fitness-Studio kamen nicht in Frage, dafür hatte sie kein Geld. Und sie musste sich, wenn sie schon keinen Job bekam, um Schwarzarbeit bemühen. Sie brauchte eine Aufgabe, irgendwas zu tun, ein Geländer, an dem sie durch den Tag hangeln konnte, das wusste sie. Vielleicht konnte sie im Internet Büroarbeiten anbieten, Schreibarbeiten übernehmen, sie musste jetzt ernsthaft suchen und über den bisherigen Horizont hinausdenken.
Zuerst aber musste sie einkaufen gehen, der Kühlschrank war leer.
Sie duschte, wusch sich die Haare und schminkte sich.
Ich sehe trotzdem beschissen aus , dachte sie, als sie sich ansah. Ihre Lider waren geschwollen vom vielen Weinen. Sie zog die einzige Jeans an, die ihr im Moment passte, wählte dazu eine weite Bluse und Stiefel mit hohen Absätzen. Der schwarze Mantel war alt, sah aber noch gut aus und kaschierte den dicken Hintern.
Sie hatte noch zehn Euro, es war Ende des Monats.
Simone ging zu Fuß zum Markt. Sie kaufte frisches Obst und Gemüse und freute sich auf einen neuen, gesunden Lebenswandel.
Auf dem Rückweg traf sie die Frau mit den beiden Hunden. Sie hieß Frau Favier und wohnte eine Etage über Simone, sie hatten sich schon ein paar Mal im Hausflur gesehen. Der Pekinese und der Yorkshireterrier waren hysterisch und hießen Lulu und Bubi. Man konnte Frau Favier oft draußen keifen hören, wenn die Hunde ihre Kläffanfälle hatten und dabei an der Leine rissen und Pirouetten drehten. »Bubi! Lulu! Aus! Feiner Hund, ja feiner Hund«, rief Frau Favier dann. Wie der Herr, so das Gescherr , hatte Simone gedacht, als sie die Frau mit dem verkniffenen Gesicht und der platten Nase zum ersten Mal gesehen hatte. Ihre Stimme war schrill, ihr Haar hatte dieselbe Farbe wie das Fell des Yorkshires, ihre runzligen Finger waren von Gicht verkrümmt und umklammerten den Griff der Leine mit weißen Knöcheln. Heute war Simone gut gelaunt und blieb stehen, um mit Frau Favier ein paar freundliche Worte zu wechseln. Die Hunde machten Männchen und bellten sie gellend an.
»Bubbu, Lulli, alles ist gut«, sagte Simone und erzählte Frau Favier, dass sie auch mal einen Hund gehabt hatte.
»Lulu und Bubi!«, verbesserte Frau Favier streng, und Simone musste grinsen. Sie gingen das letzte Stück gemeinsam nach Hause. Die Hunde rissen an der Leine und regten sich über Passanten, Autos, Vögel und Simone auf. Frau Favier erzählte Simone von ihrer Gicht, ihrem Blutdruck und der kaputten Hüfte. Simone bedauerte sie. »Sie haben einen tollen Namen«, sagte Simone. Frau Favier lächelte: »Mein Mann war Franzose. Ich war froh, als ich seinen Namen bekam, denn mein Mädchenname war Klappholz. Amelie Klappholz, das klang doch nicht. Amelie Favier ist schön.« Simone mochte die alte Dame plötzlich. Sie hörte sich sagen: »Wenn ich Ihnen die beiden mal abnehmen soll, Gassi gehen oder so, sagen Sie einfach Bescheid. Ich verstehe was von Hunden.«
Frau Favier lächelte dankbar und sah jetzt eigentlich ganz nett aus. »Wirklich? Ach, das wäre prima. Vielleicht, ich will nicht unverschämt sein, aber es ist schon ein passender Zufall, dass Sie das jetzt sagen, vielleicht gleich morgen Vormittag? Ich möchte eine Freundin im Altenheim besuchen und darf die Hunde nicht
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