Im Netz der Meister 2
den Schlüssel bekommen hatte, stand sie in der Dämmerung des regnerischen Nachmittags auf dem Balkon und heulte.
November. Nicht nur draußen , dachte sie. Ihr Selbstmitleid war schmerzhaft. Sie rauchte und sah die vielen Fenster auf den Rückseiten der Häuser, zwischen denen ihr neues Zuhause stand.
Wer lebt da? Wer lebt so, in diesen Blocks, zig Parteien in jedem Haus, Wand an Wand, Tür an Tür mit Fremden? Jeder kann beim anderen in die Fenster gucken.
Im Hinterhof reckten zwei Bäume ihre schwarzen Äste bizarr über ein schmutziges Wellblechgaragendach. Sie sah sich um.
Es ist ja nicht für immer, aber es ist ein Anfang.
Simone hatte noch nie allein gelebt, nie eine eigene Wohnung gehabt, nicht mal ein eigenes Zimmer. Als Kind hatte sie sich eins mit ihren Schwestern geteilt. Denen würde sie es auch bald sagen müssen. Verena würde irgendwas loslassen wie: »Ich wusste immer schon, dass Familie keine Lebensform ist ...« Dann würde sie ausschweifend erzählen, wie gut es ihr selbst ginge. Und Adelheid, das Gluckenmuttertier, würde wahrscheinlich heulen und heiße Hühnersuppe als Allheilmittel empfehlen. Mutter hatte es mit dem »Ich hab Gerald ja von Anfang an nicht gemocht«-Gesicht hingenommen.
Scheiß drauf. Ich muss nur mir selbst gegenüber Rechenschaft ablegen. Den Kindern gegenüber auch, ja. Die Mädchen hatten verstanden, dass sie sich trennen wollten. »Ich würde mit Florian auch nicht zusammenbleiben, wenn ich ihn nicht mehr lieben würde«, hatte Jenny gesagt. Julia hatte ein bisschen geweint und versucht, tapfer zu sein. Nicht dran denken. Die meisten Ehen scheitern, und die meisten Kinder überstehen es. Nicht dran denken.
Simone wischte sich die Tränen ab und schnippte die Kippe in die Regenrinne am Balkon. Es beginnt ja auch eine neue Freiheit.
Sie war sich ihres verhängnisvollen Irrtums nicht bewusst: Sie verwechselte Freiheit mit Einsamkeit.
Die ersten Wochen waren ungewohnt. Es war eng. Das Appartement war etwa so groß wie das Wohnzimmer zu Hause. Wann immer Simone ein paar Schritte ging, hatte sie das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen. Aber zuerst genoss sie es, aus dem Haus zu gehen, und zu entscheiden, ob sie den rechten oder den linken Weg nehmen würde.
Anfangs fühlte sie sich gut. Die neue Wohnung war ihr kaum fremd, denn sie loggte sich morgens wie immer im «Harte-Liebe-Forum« ein, trank ihren Kaffee vor dem Rechner und las die neuen Beiträge im Forum. Hier war alles wie immer, ein Zuhause, vertrautes Terrain. Was spielte es schon für eine Rolle, ob hinter ihr der Buchladen, das Computerzimmer oder das Wohnklo, wie sie ihre neue Wohnung nannte, waren? Der Bildschirm vor ihr war das Tor zur Welt. Sie loggte sich immer wieder aus, unterbrach Chats mit der Erklärung, sie müsse nun arbeiten, die Pflicht rufe. Warum sie log, wusste sie nicht, aber sie dachte auch nicht darüber nach.
Simone surfte in einer nahezu regelmäßigen Reihenfolge zu etlichen BDSM-Seiten, sah sich bei eBay nach preiswerten Klamotten und bei Amazon nach gebrauchten Büchern um, guckte sich Videos bei Youtube an, staunte über Millionen privater Fotos bei Flickr, ging zu Myspace und Xing, erstellte sich ein Profil bei poppen.de, um sehen zu können, wer sich dort tummelte, und sie eröffnete Accounts bei Lycos, Friendscout und Neu.de unter dem Namen »Holly Golightly«. Sie liebte diese Figur aus Capotes Buch »Frühstück bei Tiffanys«, die mit der aus dem gleichnamigen Film allerdings nicht mehr viel gemeinsam hatte. Sie lebte im Internet.
Mittwochs fuhr Simone mit der Straßenbahn nach Köln, tauchte stets gut gelaunt beim Stammtisch auf; sie kannte dort inzwischen etliche Leute und betrachtete sie als ihren Freundeskreis. Manchmal hatte sie dort ein Date, aber niemand gefiel ihr.
Ich bin zu verwöhnt. Ich habe in einer Zeit, als die Szene noch nicht so überlaufen war, Glück gehabt und gute Erfahrungen gemacht. Solche Doms wie Karel muss es doch irgendwo geben, die haben ja ihre Neigung nicht aufgegeben oder sind nicht mehr auf der Suche, dachte sie.
Simone füllte ihre Zeit mit suchen, sortieren, chatten, telefonieren, mailen, lesen. Sie kam kaum dazu, an etwas anderes zu denken. Und sie kam nicht auf die Idee, dass sie vor ihrem schlimmsten Feind flüchtete: vor sich selbst.
Nachdem Simone alle Behördengänge für das Arbeitsamt erledigt hatte und ihr monatlich 724 Euro bewilligt wurden, atmete sie auf, lehnte sich zurück und richtete sich ihren Tag endgültig neu ein.
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