Im Netz der Meister 2
einen virtuellen Rosenstrauß mit fünfzig Rosen schenkte, war Simone überwältigt. Immerhin kostete jede Rose zehn Cent, man bezahlte sie über ein SMS-Guthaben. Und als Simone am Abend ihres Geburtstages sah, dass Diana einen Thread eröffnet hatte, der »Chatterleys Gratulanten« hieß und dass ihr dort fast fünfzig Leute gratulierten, war Simone sehr gerührt. Diane war wirklich ein Goldstück und nach einigen Wochen konnte Simone sich ein Leben ohne ihre neue Freundin gar nicht mehr vorstellen. Am 1. Dezember hatte Diana eine weitere Überraschung für Simone: Sie schenkte ihr einen virtuellen Adventskalender.
Jeden Tag schrieb Diana ihr ein Gedicht oder ein Zitat ins Gästebuch - persönlich ausgesucht und kurz kommentiert. Vierundzwanzig handverlesene Texte. Simone freute sich sehr.
Den Heiligabend verbrachte sie mit Gerald und den Mädchen. Simone hatte Gerald seit Monaten nicht gesehen. Sie fühlte sich schrecklich, als sie vor der Tür ihres früheren Zuhauses stand und klingelte. Jenny öffnete und nahm sie in den Arm. »Mama! Komm rein.« Simone kamen die Tränen. Was für eine Situation.
Das Haus roch vertraut. Wie in einem Traum, einer unscharfen, aber schmerzenden Erinnerung ging sie ins Wohnzimmer. Die Mädchen hatten den Tannenbaum so geschmückt, wie Simone es früher immer getan hatte: alles in Gold. Zwanzig Jahre lang hatte sie die feinen Kugeln, Sterne und Engel gesammelt; wunderschöne, wertvolle Einzelstücke waren dabei. Simone stand vor dem Baum und strich behutsam über eine große Kugel, auf der eine Schneelandschaft aus glitzerndem Goldflitter schimmerte. Sie hatte sie in Köln gekauft, Julia lag damals noch im Kinderwagen. Und diese Sterne aus Golddraht waren filigrane Kunstwerke, sie stammten aus einer Galerie in Bonn, die es schon seit Jahren nicht mehr gab. Die antiken Engel hatte sie von ihrer Großmutter, es gab nur noch zwei Stück davon. Jedes Teil eine Erinnerung, jede Erinnerung ein erstarrter Moment.
Sie hörte Jenny die Treppe runterlaufen, sie stürmte ins Wohnzimmer und umarmte Simone. Wie groß sie war, einen Kopf größer als sie selbst, und so hübsch. Eine richtige Frau , dachte Simone. Gerald kam aus der Küche. Er sah gut aus. Sie standen sich einen Moment schweigsam gegenüber. Er trocknete sich die Hände an einem karierten Tuch ab, Simone kannte es, es war eins von den gelbweißen, die sie damals gekauft hatten, weil sie so gut zur Küchendekoration passten.
Sie aßen zusammen, zelebrierten bemüht die Bescherung und saßen verloren im Wohnzimmer, nachdem die Mädchen sich gegen neun verabschiedeten, um mit ihren Freunden eine Christmas-Party zu feiern. »Du siehst geschafft aus, Simone, ist alles okay?«
»Klar, alles klar, wirklich. Ich hab ein bisschen Geldsorgen, aber das ändert sich, wenn ich wieder einen Job habe.« Sie bemühte sich sehr, ihre Stimme fest und sicher klingen zu lassen.
»Du weißt, dass ich dir helfen würde, wenn ich könnte, oder?«, sagte Gerald. Sie schluckte und nickte. Er sagte: »Du siehst krank aus, warst du in letzter Zeit mal beim Arzt?«
»Nein, ich bin gesund. Ich rauche zu viel und bewege mich zu wenig, aber mir fehlt nichts.« Sie sah ihn an und schämte sich, weil sie wusste, dass sie zu dick war und ungepflegt aussah. Sie starrte ihre Fingernägel an. Sie waren kurz und nicht lackiert. Die Nagelhaut war am Daumen entzündet, und Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand waren gelb vom Nikotin. Sie hatte immer so gepflegte Hände gehabt. Mein Gott, was ist aus mir geworden? , dachte Simone, aber es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Sie redeten noch eine ganze Weile, tranken Wein, wurden ein bisschen sentimental. Um zehn brachte Gerald Simone zur Straßenbahnhaltestelle.
Sie schaffte es, sich zusammenzureißen, bis sie ihre Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. Dann warf sie sich aufs Bett und schrie in die Kissen, sie schrie und schrie, aber der Schmerz wurde nicht weniger, er zerriss ihre Eingeweide, schüttelte ihren Körper und ließ sie frieren, frieren, frieren.
Sie blieb beide Weihnachtstage im Bett. Morgens rief sie bei ihrer Mutter an und sagte das traditionelle Gänseessen ab. Sie hatte keine Lust auf ihre Schwestern und deren Bagage. Sie sei krank, Durchfall, sagte sie, nahm die Ratschläge ihrer Mutter, Cola ohne Kohlensäure zu trinken und Salzstangen zu essen, müde an.
Simone lag nur da und starrte vor sich. Manchmal heulte sie und schlief danach vor Erschöpfung ein. Sie aß nichts,
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