Im Netz der Meister (German Edition)
Einträge von Arno, die beiden kommunizierten in Gedichtform und bedienten sich dabei hauptsächlich aus dem Stundenbuch von Rilke. In Arnos Gästebuch stieß Simone auf den Eintrag von »Fleur Cardinal«. Sie stutzte, denn von diesem französischen Rotwein hatte sie Karin früher mehrfach schwärmen hören. Nach einem Blick auf die zugehörige Seite lachte Simone laut: Es war Karin, sie hatte auch in diesem Profil ein Originalfoto von ihrem Gesicht abgebildet.
Im Laufe der Zeit fand Simone mehr als zwanzig Pseudonyme, unter denen Karin chattete. Die Nicks, die sie sich ausgesucht hatte, waren fantasievoll und originell: Eine Strumpfmarke, italienische Opernfiguren, Blumen und englische Vokabeln dienten ihr als Namen.
Wenn Simone online war und sah, dass Karins Nick »Gräfin Mariza« als abwesend angezeigt wurde, schaute sie bei den anderen Profilen nach. Eines davon war immer grün. Karin schien zwanzig Stunden am Tag online und ihrer Internetsucht nun völlig verfallen zu sein.
Vielleicht war Simone durch die ungerechte Kündigung daran schuld? Sie fragte sich, ob es nicht an der Zeit war, den lange geplanten Besuch bei ihrer Ex-Mitarbeiterin anzukündigen. Spontan griff sie zum Telefonhörer und wählte Karins Nummer. Sie meldete sich sofort.
»Können wir miteinander reden, Karin? Es tut mir leid, wie ich dich behandelt habe«, sagte Simone.
Es war einen Moment still in der Leitung, Simone hörte Karin am anderen Ende ein- und ausatmen. Die beiden verabredeten sich für den nächsten Abend.
Simone besorgte einen Blumenstrauß und eine Flasche Fleur Cardinal und fuhr nach Auerberg.
Sie hatte nicht gewusst, dass Karin in einem der alten Hochhäuser wohnte. Verkommene Grünflächen, überquellende Mülleimer, an den Fenstern vieler Wohnungen hingen Bettlaken und Wolldecken statt Gardinen. Diese Gegend war so ganz anders als die, in der Simone zu Hause war.
Sie fuhr in die zwölfte Etage. Der Fahrstuhl war sehr langsam und Simone hatte reichlich Zeit, die Parolen und Sprüche zu lesen, die an die Wände geschmiert waren. Es stank, als diente der Lift zuweilen auch als Toilette .
Karin stand vor einer der zahllosen Türen auf dem langen Flur. Sie hatte ihr Haar mit pinkfarbenen Kämmen hochgesteckt und trug riesige pinkfarbene Kreolen. Ihr glänzender rosa Jogginganzug saß hauteng und passte farblich genau zu ihrem leuchtenden Lippenstift.
»Habe die Ehre, liebste Simone«, sagte sie, und ihr Ton klang spöttisch.
Simone hielt die Luft an, als sie Karins Wohnung sah. Weiße Ikeamöbel waren mit Rosenmotiven beklebt und bemalt, vor den Fenstern hingen burgunderrote Chiffongardinen, auf die winzige rosa Röschen genäht waren. Auf dunkelrotem Teppichboden stand ein großes weißes Sofa, das mit zahllosen rosaroten Kissen bestückt war. An der Wand über dem Sofa hingen vier eingerahmte Poster, die eine Ballerina im Tutu in verschiedenen grazilen Positionen zeigten. Über die Stehlampen hatte Karin rosa und rote Chiffontücher drapiert, und diverse Tischchen schmückten Spitzendeckchen, Satinschleifen und Bordüren. Es war alles sehr sauber. Der altrosafarbene Teppichboden war im Quadrat gesaugt, Simone sah es an den Spuren auf dem Velours. Mittelpunkt des Wohnzimmers war ein weißer Schreibtisch, auf dem ein ziemlich moderner Computer stand. Auf dem Boden neben dem Bürostuhl stapelten sich Bücher. Simone überflog die Titel der Buchrücken: »Das deutsche Gedicht«, »Deutsche Lyrik«, gesammelte Werke von Erich Fried und »Die schönsten Gedichte von Hermann Hesse«.
»Sehr romantisch hier.« Das war der einzige Kommentar, der Simone einfiel. Sie wollte das geplante Gespräch nicht sofort mit einem Exkurs über Karins merkwürdigen Geschmack beginnen.
Die beiden Frauen plauderten ein wenig verkrampft, aber nach dem zweiten Glas Fleur Cardinal wurden beide lockerer. Sie kamen schnell auf Love.Letters und die Flirterei dort zu sprechen, schließlich war das der Grund für ihre Auseinandersetzung und somit für Simones Reaktion gewesen.
Karin sagte: »Die Virtualität und ihr Wert. Ach, ma chère, jene Frage stelle ich mir oft. Indes, ich pflege durchaus einige meiner Kontakte auf diese Weise, nein, nicht nur zu Männern. Ich habe im World Wide Web auch einige Damen, mit denen ich rege korrespondiere. Ich schreibe gern und viel. Worte sind ein Schlüssel zu mir, aber das weißt du. Ich kommuniziere im Sinne von echter Korrespondenz, auf die Menschen bezogen, und nur mit denen, die meine zuweilen arabeske
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