Im Palazzo sueßer Geheimnisse
vorne. Doch schon nach wenigen Metern hielt ein sechster Sinn sie davon ab, weiterzugehen. Die Gasse endete an einer Treppe, die zu einem träge fließenden Abwasserkanal führte.
Mit dem Rücken an eine Wand gepresst, spähte sie den Weg hinauf. Es war nichts zu hören, dennoch hatte sie das Gefühl, dass dort jemand lauerte.
Jemand, der wusste, dass sie in der Falle saß.
Obwohl Lucy vor Angst wie gelähmt war, arbeitete ihr Gehirn auf Hochtouren. Sie konnte nicht über das Wasser fliehen. Aber vielleicht könnte sie um ihr Leben rennen wie bei einem Spießrutenlauf. Damit würde er nicht rechnen, und den Überraschungseffekt nutzend, könnte sie an ihm vorbeistürmen.
Kurzerhand zog sie schnell ihre Schuhe aus – ehe sie der Mut wieder verließ – und sauste die Gasse hinauf.
Gerade oben angekommen, prallte sie unvermittelt auf die lauernde Gestalt. Lucy hörte den Mann fluchen, während sie nach Atem rang.
Er war groß und muskulös und ergriff sie mit seinen starken Händen. Verzweifelt versuchte Lucy, sich von ihm zu befreien. „Kein Grund zur Panik.“ Sein Englisch klang kultiviert. „Ich will Ihnen doch nichts tun.“ Sobald Lucy ihren Widerstand aufgab, ließ er sie los und bückte sich, um die Schuhe aufzuheben, die sie fallen gelassen hatte.
„Die sollten Sie besser anziehen“, stellte er fest und wartete, bis sie wieder in Pumps vor ihm stand. „Ausrauben wollte ich sie auch nicht“, fügte er hinzu und gab ihr ihre Handtasche zurück.
Immer noch unter Schock, griff sie danach und wollte an ihm vorbei, doch er versperrte ihr in den Weg. „Bei Dunkelheit sollten Sie finstere Seitenstraßen meiden. In einen Kanal zu fallen, wäre hier noch das kleinste Übel. Das verstehen Sie doch?“
Lucy versuchte zu sprechen, brachte jedoch kein Wort heraus. Sie stand so nah bei ihm, dass ihr der Duft seines teuren Aftershaves in die Nase stieg.
Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass sie von ihm nichts zu befürchten hatte. Aber weil sie das Gesicht des Fremden nicht sehen konnte, war sie unsicher.
„Sie zittern. Ich glaube, Sie brauchen erst mal einen Drink auf den Schreck“, bemerkte er eher schroff als mitfühlend.
Seltsam beruhigt durch den kühlen Tonfall, folgte Lucy ihm. Wobei sie allerdings das Gefühl hatte, dass ihre Beine ihr nicht gehörten, und prompt stolperte.
Der Mann ergriff sofort ihren Arm und ging langsamer. Bewegte sich so sicher wie ein Geschöpf der Nacht durch die Dunkelheit.
Ehe Lucy sich versah, gelangten sie auf einen Platz mit noch geöffneten Straßencafés. Als das Licht einer Laterne auf den Unbekannten fiel, sah sie sein Gesicht – und starrte ihn wie hypnotisiert an. Ihr Gehirn musste ihr einen Streich spielen!
Er sagte nichts, schenkte ihr nur einen kurzen Blick aus seinen silbergrauen Augen.
In dem lässigen Seidenshirt wirkte er noch breitschultriger als in ihrer Erinnerung. Aber er war eindeutig der Mann, der sie auf dem Piazzale Roma so beeindruckt hatte.
Trotz der Wärme der Nacht fröstelte Lucy. Er dirigierte sie zu einem freien Tisch, ging zur Bar und kam mit zwei Brandys wieder.
Mit zitternder Hand hob Lucy das Glas an die Lippen. Weil sie Alkohol nicht gewohnt war, hüstelte sie, als die brennende Flüssigkeit durch ihre Kehle rann.
Ihr Begleiter sah ungerührt zu, wie sie trank, und bemerkte schließlich: „Langsam bekommen Sie wieder Farbe im Gesicht.“
Lucy stellte fest, dass er akzentfrei Englisch sprach. War er womöglich ein Geschäftsmann auf Besuch, der Venedig gut kannte, aber nicht hier lebte?
„Warum sind sie bloß durch die Finsternis spaziert?“
„Und warum sind Sie mir gefolgt?“, reagierte sie auf den versteckten Tadel.
„ Ich soll Ihnen gefolgt sein?“ Er hob eine Braue.
„Stimmt es denn nicht?“, stichelte sie.
„Sehe ich aus wie ein Räuber oder Vergewaltiger?“ Der Fremde amüsierte sich.
Wollte er sie für dumm verkaufen?
„Also, ich hörte doch Schritte hinter mir und …“
„Ihre blühende Fantasie verriet Ihnen, dass sie verfolgt werden?“
„Aber, sobald ich stehenblieb, taten Sie es auch.“
„In den engen Gassen klingen alle Geräusche seltsam, besonders nachts.“
Lucy sagte nichts, schließlich wollte sie es nicht übertreiben, auch wenn sie dazu neigte. Doch ihr Begleiter fügte hinzu: „Morgen werden Sie darüber lachen.“
„Ich fürchte, ich habe keinen so guten Humor.“
„Nun, wenn er so ist wie Ihre Fantasie … Sagen Sie mal, wenn Sie so schwache Nerven haben, warum
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