Im Palazzo sueßer Geheimnisse
Wasser glitzern und erhellte den bröckelnden Putz des gegenüberliegenden Gebäudes mit ihrem Licht. Es war keine großartige Aussicht. Aber Lucy plante ja nicht, Venedig nur vom Hotelzimmer aus zu erleben.
Sie nahm frische Unterwäsche, ein rotes Kleid und passende Pumps aus dem Koffer und ging ins Bad. Sobald sie sich frisch gemacht hatte, wollte sie essen gehen und bei einem Stadtbummel erste Eindrücke von Land und Leuten gewinnen.
Land und Leuten …
Beim letzten Gedanken sah Lucy sofort das faszinierende Gesicht des Fremden vor sich. Seine hellen Augen, die so einen intensiven Kontrast zu seinen dunklen Haaren bildeten. Seine klassischen Gesichtszüge mit der markanten Kerbe im Kinn, wie Lucy sie nur von Gemälden alter Meister kannte. Dieses Gesicht erschien ihr so vertraut, als habe sie es schon immer in ihrem Herzen getragen.
Ob er hier lebte? Natürlich konnte er auch ein Tourist sein. Doch das glaubte Lucy eher nicht. Er gehörte hierher, passte perfekt zu Venedigs stolzer Vergangenheit. Sie konnte sich ihn gut vorstellen in dem schwarzen Umhang des Dogen …
Lucy seufzte und versuchte schuldbewusst, sich wieder auf ihren Verlobten zu konzentrieren. An den anderen Mann zu denken, erschien ihr wie ein Verrat an Paul.
Kurze Zeit später schlüpfte sie nach einer belebenden Dusche in ihr Kleid und zog die Schuhe an. Ihr Haar trug sie offen. Sie verließ das Hotel und bahnte sich ihren Weg durch die Gassen in Richtung Piazza San Marco.
Mit seinen Prachtfassaden und den Arkaden, die ihn an drei Seiten umgaben, wirkte der Platz wie eine einzige Theaterkulisse mitten im Herzen Venedigs.
Zwar war es Sonntagabend, dennoch waren die Straßencafés voll. Stimmen, Gelächter und Musik ertönten. In der Luft schwebte eine Geruchsmischung aus frisch geröstetem Kaffee, Blütenduft und einer salzigen Brise von der Lagune.
Gerade schlenderte Lucy auf eins der Restaurants zu, als ein Tisch frei wurde.
Sie bestellte sich einen Salatteller Frutti di mare, dazu ein Glas Weißwein. Daran nippte sie und lauschte der Liveband, die bei Einbruch der Dämmerung italienische Liebeslieder im purpurnen Licht der alten Gaslaternen vortrug.
Und während der ganzen Zeit versuchte sie, von jedem Passanten, der vorbeiging, einen flüchtigen Blick zu erhaschen. Vielleicht war er ja dabei, der Mann mit dem faszinierend markanten Gesicht …
Die nachhaltige Wirkung ihrer Begegnung mit dem Unbekannten beschäftigte Lucy so sehr, dass sie die Zeit vergaß. Mehr und mehr Sterne funkelten am Abendhimmel auf, der sich wie ein Baldachin wölbte. Wie spät es geworden war, bemerkte sie erst, als sich eine Wolke vor den Mond schob.
Zwar wäre sie noch gern geblieben, aber am Morgen wollte sie mit ihrer Arbeit beginnen. Deshalb trank sie nur noch schnell einen Espresso, bezahlte und machte sich auf den Rückweg.
Abseits der Touristenpfade war es ruhiger. Aber auch dunkler. Sehr viel dunkler.
Zuversichtlich lief Lucy zunächst in die Richtung, aus der sie gekommen war. Doch nach einer Weile wurde sie unsicher.
Wann immer sie an einer Kreuzung meinte, eine der Gassen wiedererkannt zu haben, bemerkte sie bald ihren Irrtum. Selbst die Straßenschilder halfen nicht. Manche hingen zu hoch, andere lagen so im Dunkeln, dass sie sie nicht lesen konnte.
Am Ende der Gasse gabelte sich der Weg wieder. War sie nicht dort auf den kleinen Platz abgebogen? Angestrengt spähte Lucy in die Nacht. Wenn sie nicht alles täuschte, ging es hinter dem Brunnen und der Kirche mit der schmiedeeisern beschlagenen Tür zu dem Kanal hinter ihrem Hotel.
Oder doch nicht? Verzagt blickte sie sich um und stellte fest, dass sie sich rettungslos verirrt hatte im Labyrinth der verwinkelten Gässchen.
Dennoch biss sie entschlossen ihre Zähne zusammen. So schnell ließ sie sich nicht ins Bockshorn jagen! Zwar konnte sie kaum die Hand vor Augen sehen, aber sie ging tapfer weiter. Beschleunigte vorsichtig ihre Schritte, die unheimlich durch die Dunkelheit hallten. Plötzlich stieß sie mit einem Fuß an ein Hindernis. Sie erkannte es als ein Stück Pappe und wollte aufatmen, da hörte sie hinter sich Schritte.
Langsame Schritte, die schneller wurden, sobald sie schneller lief. Die aufhörten, wenn sie stehenblieb. Wie gelähmt verharrte sie, hörte in der Stille nur ihren eigenen Atem – und ihre Nackenhärchen richteten sich auf.
Der Unsichtbare war kein normaler Passant. Wer auch immer er war, er verfolgte sie!
Blind vor Panik stolperte Lucy einfach nur nach
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